Misshandlung erkennen
Personen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, aber nicht explizit im Thema „Misshandlung erkennen“ geschult sind, fühlen sich vielleicht hilflos, wenn dieser Verdacht aufkommt. Was können sie tun, um zu helfen? Rebekka Schuppert, Sozialarbeiterin und Bildungswissenschaftlerin für Kinderschutz in der Bundesgeschäftsstelle des Kinderschutzbundes, gibt Antworten.
Interview: Maria Köpf
WILA Arbeitsmarkt: Kindesmisshandlung – was ist das genau?
Rebekka Schuppert: Die Gefährdungsstatistik, die alle dem Jugendamt gemeldeten Verdachtsfälle von Kindeswohlgefährdungen erfasst, unterscheidet zwischen vier Formen von Gewalt gegen Kinder: körperliche Gewalt, psychische Gewalt, Vernachlässigung und sexualisierte Gewalt. Zur körperlichen Gewalt zählen etwa Körperstrafen wie eine Ohrfeige oder auch gravierende körperliche Misshandlung wie Stöße, Stiche oder Schlagen mit Gegenständen. Bei der psychischen Gewalt geht es oft um Herabwürdigung des Kindes. Das können Beleidigungen sein, die Androhung von Gewalt oder auch Sätze wie „Aus dir wird eh nichts!“ oder „Wir haben dich nie gewollt!“ Wenn Eltern so etwas sagen, wird dem Kind vermittelt es sei wertlos, ungewollt und nicht liebenswert und das kann das Kindeswohl gefährden.
Zudem kann es sein, dass Kinder von unterschiedlichen Gewaltformen gleichzeitig betroffen sind. Neben den in der Gefährdungsstatistik aufgeführten Gewaltformen möchte ich das Miterleben von Partnerschaftsgewalt als eine Gewaltform gegen Kinder benennen. Wenn Kinder häusliche Gewalt mit ansehen müssen, wenn etwa ihre Mutter angegriffen oder beleidigt wird, kann das zu massiven Traumata führen.
Was versteht man konkret unter Vernachlässigung?
Bei der Vernachlässigung geht es vor allem um die Nichtversorgung von Grundbedürfnissen und das andauernde und wiederholte Unterlassen von fürsorglichen Handlungen. Das kann Nahrung, unzureichende Wohnverhältnisse oder Kleidung betreffen. Es können aber auch emotionale Bedürfnisse nicht erfüllt werden: wenn niemand für das Kind ansprechbar ist oder die emotionale Wärme im Haushalt fehlt. Eine weitere Form der Vernachlässigung ist die unzureichende Aufsicht, beispielsweise wenn kleine Kinder allein gelassen werden oder Jugendliche über längere Zeit abwesend sind und die Eltern nicht nachfragen. Laut der Gefährdungsstatistik sind Fälle von Vernachlässigung die, die am häufigsten beim Jugendamt gemeldete Form der Kindeswohlgefährdung.
Und was sind die Kennzeichen sexualisierter Gewalt?
Eine aktuelle, repräsentative Studie für Deutschland zeigt, dass 12,7 Prozent der Befragten angab, im Kindes- oder Jugendalter sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Diese Zahl entspricht runtergerechnet zirka ein bis zwei Kindern pro Schulklasse.
Fachkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, müssen verstehen: Bei sexuellem Missbrauch spielen die Gefühle Scham und Schuld bei Betroffenen eine so große Rolle, dass sie über die Erlebnisse selten berichten. Zudem sind die Strategien der Täter darauf ausgerichtet, die Tat geheim zu halten und Schuldgefühle der Betroffenen zu verstärken.
Wie kann ich das als außenstehende Person erkennen, ob ein Kind einer Form von Misshandlung ausgesetzt ist?
Es kann ganz unterschiedliche Anzeichen oder Signale für Gewalt an Kindern geben, die sich auch an den Gewaltformen unterscheiden können. Vernachlässigung kann auffallen, weil Kinder untergewichtig sind, vermindertes Wachstum oder Rückstände in der körperlichen Entwicklung aufweisen. Im Alltag kann es sich zeigen, dass sie in der Schule niemals Schulbrote dabeihaben und keine warmen Mahlzeiten zu Hause erhalten. Auch können fehlende witterungsbedingte Kleidung zum Beispiel, wenn Schulkinder im Winter mit kurzer Hose im Unterricht erscheinen, oder eine mangelnde Körperhygiene auffällig werden.
Bei körperlicher Gewalt zeigen sich oft auch sichtbare Zeichen wie Hämatome, Wunden oder Knochenbrüche. Hinzu kommen oftmals Verhaltensauffälligkeiten, wie aggressives Verhalten oder Jugenddelinquenz oder auch das Gegenteil, dass Kinder auffällig schüchtern und zurückhaltend sind, und wenig Selbstbewusstsein zeigen. Es kann noch weitere Auffälligkeiten geben, wie selbstverletzendes Verhalten, Distanzlosigkeit, Einnässen oder Schlafstörungen.
Letztlich gilt es immer gut hinzuschauen, weil jedes Kind anders reagiert. Weil die Anzeichen so verschieden sein können, ist es sinnvoll, dass alle Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, Schulungen besuchen, um aufmerksam für Gewalt an Kindern werden.
Wie gehen Fachkräfte mit Andeutungen von Kindern um? Es gilt ja, sie nicht zu verunsichern oder zu bedrängen.
Wenn ein Kind direkt von erlebter Gewalt erzählt, sollte man sich als Fachkraft zunächst vorstellen, wie viel Kraft es das Kind kostet, davon zu erzählen. Daher sollte die erste Reaktion sein, das Kind für seinen Mut zu loben und ihm zu versichern, das Richtige getan zu haben. Das entlastet das Kind sofort von möglichen Schuldgefühlen. Die Fachkraft sollte dann klarstellen, dass die vom Kind erlebte Gewalt in Deutschland verboten ist. Durch sensibles Nachfragen sollte man einen Eindruck davon bekommen, was konkret passiert ist. Hier geht es nicht darum, die Wahrheit zu überprüfen, sondern später handlungsfähig zu sein.
Hat man eher einen vagen Verdacht, sollte man dem Kind Gespräch und Hilfe anbieten, auf Beratungsangebote oder auf die „Nummer gegen Kummer“ hinweisen. Auch ist es eine Idee mit den Kindern zum Thema Kinderrechte zu arbeiten und darüber aufzuklären. Oftmals ist betroffenen Kindern gar nicht bewusst, dass Gewalt in der Erziehung verboten ist. Hinweise auf unterschiedliche Hilfsangebote kann man in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche auch an einem „schwarzen Brett“ aushängen.
In beiden Fällen: Bei der Mitteilung durch das betroffene Kind oder bei einem Verdacht auf Gewalt, ist für Fachkräfte ratsam sich durch eine insoweit erfahrene Fachkraft (Anm. d. Red.: Der Begriff insoweit erfahrene Fachkraft ist im SGB 8, vor allem in den Paragrafen 8a und 8b geregelt.) beraten zu lassen. Die Beratung kann helfen, die Gefährdung für das Kind einzuschätzen und weitere Schritte zu planen, die für den Schutz wichtig sind.
Was gilt es außerdem zu beachten?
Es ist immer wichtig von Anfang zu dokumentieren. Je länger man mit so einem Fall beschäftigt ist, desto mehr Informationen ergeben sich. Hier heißt es, sich wirklich logbuchartig zu notieren, welche Beobachtungen man wann gemacht hat und welche Gespräche stattgefunden haben. So lassen sich später, wenn man Fachberatungsstellen oder dem Jugendamt den Fall schildern muss, die Informationen gut sortieren.
Gibt es auch Grenzen des Engagements in solchen Fällen?
Wovon ich immer abraten würde, ist auf eigene Faust oder investigativ vorzugehen oder vermeintliche Täter oder Betroffene zu konfrontieren. Auch kann es schnell zu einer Überforderung bei Fachkräften kommen. Besser ist es, sich Beratung und Hilfe zu suchen: Das können insoweit erfahrene Fachkräfte, Fachberatungsstellen oder Kinderschutzzentren sein. Alle Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, haben sogar ein Anrecht auf diese Beratung.
Gibt es ein Gesetz, dass Fachkräften vorschreibt, selbst juristisch eingreifen zu müssen?
Das Sozialgesetzbuch 8 regelt, dass Jugendhilfeeinrichtungen und Kindertagesstätten dafür sorgen müssen, dass bei Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung eine Gefährdungseinschätzung stattfindet und dabei eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzugezogen wird.
Jede Einrichtung, die mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, sollte zudem ein Schutzkonzept vorweisen können, in dem diese Verfahrens- und Meldewege geregelt sind. Für bestimmte Einrichtungen der Jugendhilfe und Kindertagesstätten, ist es bereits gesetzlich verpflichtend ein Schutzkonzept zu entwickeln. Einige Bundesländer regeln zudem die Verpflichtung, für Schulen Schutzkonzepte zu entwickeln.
Welche Beratungsstellen oder Hotlines sind wichtige Anlaufstellen für betroffene Kinder und Jugendliche?
Eine bekannte Hotline, die für Kinder und Jugendliche erreichbar ist, ist die „Nummer gegen Kummer“. Kinder und Jugendliche haben zudem das Recht auf eine Beratung unabhängig und ohne das Wissen von den personensorgeberechtigten Personen.
Für eine externe Hilfe in solchen Fällen haben einige Träger und Dachverbände bereits eigenes Personal für Kinderschutz. Doch auch wenn ein Träger noch kein eigenes Personal hierfür hat, gibt es deutschlandweit über 400 Ortsverbände mit Fachberatungsstellen, Erziehungsberatungsstellen oder Kinderschutzzentren dafür. Die erste Anlaufstelle kann immer der Kinderschutzbund oder das Kinderschutz-Zentrum der Stadt sein – oder aber die „Nummer gegen Kummer“ als telefonische Hotline.
Wie können Fachkräfte helfen, dass die Kinder den Weg zu professioneller Hilfe finden?
Gerade wenn die Gewalt von den Sorgeberechtigten ausgeht, ist es nicht so einfach, das Recht auf Beratung einzulösen. Denn auf der einen Seite haben sie ein Recht, gleich informiert zu werden und immer den Aufenthaltsort des Kindes zu kennen. Auf der anderen Seite sind sie dann gleich über den Beratungstermin für ihr Kind informiert. Doch genau für solche Fälle sind viele Beratungsstellen empfänglich: Sie bieten beispielsweise Onlineberatungen oder Telefonberatungen an, sodass das Kind oder der Jugendliche die Beratungsstelle nicht in Persona aufsuchen müssen. Hier ist besonders die „Nummer gegen Kummer“ wieder ein guter Anlaufpunkt.
Es ist nicht anzuraten, gleich zur Polizei zu gehen, damit ermittelt wird, auch wenn es um eine Straftat geht. Eine andere Interventionsform ist beispielsweise eine Meldung beim Jugendamt, denn dieses hat die Aufgabe, für den Schutz gegen Gewalt zu sorgen.
Doch davor geschaltet ist immer die Beratung durch eine erfahrene Fachkraft für Kinderschutz. Solche Stellen helfen bei der Erstellung von Schutzkonzepten, helfen Fortbildungen anzubieten oder bieten der Fachkraft eine Supervision an. Hat man erst einmal den Kontakt zu solch einer Stelle gelegt, wird man im nächsten Fall mit einem betroffenen Kind problemlos wieder bei der Fachstelle einen Fall schildern können. So sind die Lösungswege schon gelegt.
Wichtig ist es, dass Fachkräfte, die mit Kindern arbeiten, die Verantwortung übernehmen und Schritte für den Schutz von Kindern einleiten.

