
Grenzen ausloten erlaubt
Alkohol, illegale Drogen, Sex: Erwachsen werden bedeutet auch, vieles auszuprobieren. Wie man Jugendlichen dabei ein angemessenes Risikoverhalten aufzeigen kann, erläutert Juri Schaffranek, Diplom-Sozialpädagoge (FH) und Streetworker in Berlin.
Interview: Christine Lendt

WILA Arbeitsmarkt: Präventionskampagnen zu Themen wie Drogen oder Safer Sex laufen oft ins Leere, wie Studien belegen. Wie kann man Jugendliche also erreichen, um bei ihnen ein Risikobewusstsein zu wecken?
Juri Schaffranek: Solche Kampagnen vermitteln Informationen auf kognitive Weise, doch dann gehen sie an den Jugendlichen eher vorbei, weil gerade Themen wie Rausch, Sexualität oder rasantes Autofahren auch eine ganz starke emotionale Komponente haben. Also ist fraglich, ob eine Aufklärungskampagne zum Thema Safer Sex wirklich ankommt, wenn sich ein junger Mensch gerade in einer Situation befindet, in der die kognitive Seite quasi ausgeschaltet ist.
Also erreicht man Jugendliche eher über eine emotionale Ansprache?
Genau. Wir setzen bei unserer Jugendarbeit damit schon viel früher an, indem wir bei bestimmten spielerischen Übungen, Simulationen oder Gesprächen ihrem Erlebnisgedächtnis eine Alternative bieten, um das, womit sie bisher kaum oder keine Erfahrungen haben, in ihrem Bewusstsein zu verankern. So üben wir in Rollenspielen zum Beispiel, wie man in einer leidenschaftlichen Situation am besten ein Kondom zur Sprache bringt. Dieses „Reflecting“ fördert die Risikokompetenz und erweitert das eigene Handlungsrepertoire in riskanten Situationen.
Für solche Reflexionsmethoden müssen Jugendliche erst einmal offen sein. Wie gelingt es, einen geeigneten pädagogischen Rahmen dafür zu schaffen?
Wesentlich ist, die Menschen dort abzuholen, wo sie sich befinden. Wir Streetworker*innen treffen auf die Jugendlichen in Situationen, in denen sie zum Beispiel bereits illegale Substanzen konsumieren. Sie mit einem strengen Ton davon abzubringen, funktioniert normalerweise nicht. Aber wir können sie auf dieser Ebene konkret ansprechen und ihnen dabei helfen, dass es zumindest nicht zu gefährlich für sie wird, indem wir etwa sagen: „Hey, das ist in Maßen soweit okay. Aber sei bitte vorsichtig mit Mischkonsum und warte lieber etwas länger auf die Wirkung, bevor Du zu viel davon nimmst. Macht so etwas am besten nicht alleine, sondern passt gut aufeinander auf.“ Und die Jugendlichen merken dann: „Der nimmt mich ja ernst und so wie ich bin. Coole Informationen, die er mir da noch mitgibt.“
Also bringt es mehr, verantwortungsvolles Verhalten in einer konkreten, potenziell riskanten Situation zu vermitteln?
Ja, denn auf diese Weise erreichen wir die Jugendlichen eher und retten möglicherweise mehr Leben als bei einer pauschalen Ablehnung von Drogenkonsum. Zumal es auch für uns schwierig ist, den jungen Menschen zu erklären, warum es allgemein als okay betrachtet wird, Alkohol zu trinken, sie aber zum Beispiel kein Cannabis oder Ecstasy konsumieren dürfen, obwohl etliche Studien belegen, dass Alkohol weitaus mehr Schaden anrichtet.
Das ambivalente Verhältnis zu Rausch ist nun mal ein Problem unserer Gesellschaft. Also vermitteln wir den Jugendlichen den Rausch als einen Aspekt beim Risikoverhalten, das in der Phase des Erwachsenwerdens, in der es auch darum geht, die eigenen Grenzen auszutesten, eine wesentliche Rolle spielt. Wir als Pädagogen und Pädagoginnen helfen ihnen dabei, das Ausprobieren so zu gestalten, dass sie nicht in gefährliche oder gar lebensgefährliche Situationen kommen. Aber: Es kommt natürlich auf das Setting an. Im Schulunterricht könnte ich es sicherlich nicht so kommunizieren, doch auf der Straße haben wir eine ganz andere Situation. Leider fehlt es gerade in diesem Bereich wegen der Einsparmaßnahmen an qualifiziertem Personal.
Kann man die Aufklärungs- und Präventionskampagnen also vergessen?
Nein, auch kognitive Informationen sind durchaus hilfreich, wenn sie kombiniert werden. Das emotionale Lernen verankert Informationen im Langzeitgedächtnis. Zusammen mit kognitivem Lernen kann das Wissens- und Handlungsrepertoire von Jugendlichen durchaus erweitert werden. Also es schadet nicht, ein Plakat aufzuhängen oder Flyer zu verteilen in einer Umgebung, in der man eine Reflexionsmethode anwendet. Es muss aber absolut ohne moralische Appelle erfolgen, damit beides zusammen auch wirklich fruchtet.
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