Lebensgeschichten erzählen
Eine Biografie ansprechend und interessant zusammenzufassen ist gar nicht so leicht.

Lebensgeschichten erzählen

Ein offenes Ohr, Zurückhaltung und Empathie – kurz: Jede Menge Geduld ist gefragt, wenn Auftragsbiograf*innen sich Geschichten von anderen anhören und daraus Bücher machen. Ziel ist es, die individuelle „Stimme“ eines Menschen literarisch einzufangen.

Text: Anne Prell

„Jede Geschichte verdient es, erzählt zu werden“, sagt Dr. Andreas Mäckler, Biograf, Publizist und Dozent für biografische Kurse. Zur Autobiografik kam der promovierte Kunstwissenschaftler und Autor von Büchern wie „Malerei muss sein wie Rockmusik“ durch Zufall. Eine kleine Annonce „Wer hilft mir beim Schreiben meiner Biografie?“ war der Anfang; seit 2004 schreibt Andreas Mäckler professionelle Auftragsbiografien für die unterschiedlichsten Menschen.

Für Dr. Mareile Seeber-Tegethoff begann der Weg vor knapp zwanzig Jahren im Familienkreis: „Im Rahmen meines Studiums der Ethnologie habe ich die Führung von offenen, narrativen Interviews mit meiner Großmutter geübt. Am Ende war so viel Material da, dass ich ein Buch für sie gemacht habe. Es wurde ein großer Erfolg, auch in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis. So entstand die Idee zu ‚Worte & Leben‘, meiner Biografiewerkstatt.“

Seit 2004 schreibt sie professionell (Auto-)Biografien, wobei ihr ihre Forschungen zu Lebensgeschichten zugute kamen. Mittlerweile arbeitet sie hauptberuflich als Biografin neben ihrer Tätigkeit als Dozentin für biografisches Schreiben, Lektorin, Schreibbegleiterin, Autorin und Verlegerin. Ihr Studium erscheine auf den ersten Blick nicht naheliegend, sei aber eine gute Vorbereitung für ihre jetzige Tätigkeit gewesen: „Die wertfreie, offene Haltung der Ethnologin, das Verstehen des Fremden, das Eintauchen in eine fremde Welt und das ‚Übersetzen‘ dieser Welt für andere – diese ethnologische Herangehensweise und Haltung hilft mir bei meiner Arbeit“, erklärt Seeber-Tegethoff.

Das A und O als Auftragsbiograf*in: Sich selbst zurücknehmen und anderen geduldig zuhören. Foto: Degroote Stock/Adobe Stock

Ihre Arbeit ähnele zwar dem Journalismus, aber die Herangehensweise sei mitunter sehr unterschiedlich: „Im Journalismus geht es häufig um bestimmte Fragestellungen, die von außen an die zu interviewende Person herangetragen werden. Als Biografin muss ich mich möglichst frei von meinen Vorannahmen und persönlichen Themen machen und mich ganz auf die Ansichten und Fragestellungen der Auftraggeberin einlassen.“ Wertende oder suggestive Fragen seien für sie tabu: „Die Erinnerung führt die Erzählenden auf ganz eigene Wege, und als Zuhörerin muss ich ihnen durch diesen Irrgarten folgen, ohne sie leiten zu wollen,“ so Seeber-Tegethoff. Die Strukturen in der Erzählung seien daher eine besondere Herausforderung beim
Schreiben.

Aber gerade das sei auch der Reiz: „Die Arbeit macht deshalb so Spaß, weil die Menschen erzählen wollen. Deshalb haben sie mich beauftragt“, erzählt Mäckler. In den Interviews erfahre er Dinge über das Leben seiner Klient*innen, die teilweise deren eigenen Kinder nicht wüssten. Für ihn sei vor allem interessant, die Erzählung handwerklich in die optimale Form zu bringen: „Wir sind wie Studiomusiker. Wir beherrschen möglichst viele verschiedene Stile, um individuell auf unsere jeweiligen Auftraggeber zu reagieren“.

Das Handwerk als Schreiben zu beherrschen sei wichtig, aber Hochliteratur sei in der Regel nicht gefragt. Für Andreas Mäckler ist vor allem die Erzählstimme entscheidend. Auf dem Weg zum Buch seien Interviews der erste Schritt, aufgenommen mit dem Diktafon. Insgesamt käme er auf 15 bis 20 Stunden Tonmaterial aus drei bis vier Sitzungen. Nach der Vorlage des ersten Entwurfs gebe es Feedback: „Da kann es schon passieren, dass der Sohn sagt: ‚Es ist ganz schön, aber ich höre meine Mutter noch nicht so richtig.‘ Also wird wieder nachgehört, eigene Formulierungen werden verändert und nachgefeilt.“ Ziel sei immer der magische Satz: „Ja, das ist mein Buch, das habe ich geschrieben.“

Autobiografik als Lebensunterhalt

Ein solches Werk hat seinen Wert. Je nach Kalkulation koste eine Autobiografie zwischen fünf- und fünfzehntausend Euro. Die Stundensätze lägen bei 35 bis 75 oder 80 Euro. Firmenchroniken seien ohnehin teurer. Aber wie in jeder Branche müsse man auch den Kunden oder die Kundin finden, der oder die das Budget zur Verfügung hat: „Es gibt da schon diese Leute. Großindustrielle, Millionäre. Da sind fünfzehntausend Euro kein Problem“, sagt Mäckler. Eine Biografie für 5.000 Euro habe meistens weniger als 100 Seiten. Der Preis richtet sich nach Aufwand und Umfang: „Die meisten wünschen sich ein Buch mit 150 bis 200 Seiten. Das sind dann circa 150 bis 250 Arbeitsstunden. Wenn jemand druckreif erzählt, wird es natürlich günstiger“, erklärt Mäckler die Kalkulation.

Seine Klient*innen hielten ihr Buch meist nach einem halben Jahr in den Händen. Das sei nicht die reine Arbeitszeit, sondern richte sich auch nach dem Zeitplan der Klient*innen: „Viele fangen ganz euphorisch an. Dann wird ihnen irgendetwas bewusst, das weniger schmeichelhaft ist, und sie machen wieder eine längere Pause. Diese intensive, differenzierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben ist anstrengend.

Die ‚Dämonen‘ werden wach“, sagt Mäckler. Mareile Seeber-Tegethoff lässt ihren Klient*innen und sich selbst mehr Zeit, das Buch fertig zu stellen: „Wie oft die Gespräche stattfinden, wie lange es dauert, das Buch zu schreiben und wie umfangreich ein solches ist, das kann alles sehr unterschiedlich sein“. Die Lebensbücher, die sie bisher erstellt habe, seien zwischen 60 und 600 Seiten lang, die zugrundeliegende Erzählzeit liege zwischen 3 und 30 Stunden. Im Durchschnitt vergingen zwischen Vorgespräch und Übergabe des fertigen Werks ein bis zwei Jahre.

Geduld spiele eine zentrale Rolle in der Autobiografik: „Geduld und die Fähigkeit, sich selbst zurückzunehmen, dem anderen ganz viel Raum zu lassen. Ohne eine geduldige, wertfreie und respektvolle Haltung gegenüber meinen Auftraggebern könnte ich diese Arbeit gar nicht durchführen“, stellt Seeber-Tegethoff klar. Das eigene Ego muss schon deshalb zurückstecken, weil Autobiograf*innen nie die offiziellen Verfasser*innen ihrer Bücher sind.

Zu An­dreas Mäcklers Werken gehört zum Beispiel die Autobiografie des Fußballers Rudi Gutendorf: „Mit Fußball um die Welt“. Offizieller Autor? Rudi Gutendorf. „Es sind nicht unsere Geschichten“, stellt Mäckler klar. „Wir schreiben sie nur auf.“ Ohne professionelle Distanz ginge es nicht: „Ich habe Waffenhändler, Prostituierte, Hebammen und Großindustrielle unter meinen Klienten, die verschiedensten Menschen. Vielfach sind auch Krankenbiografien dabei: die Krebsgeschichte des Sohns, das Trauma. Davon darf ich mich nicht runterziehen lassen.“

Marathon statt Sprint

Deshalb gehe es bei der Auftragsbiografik nicht nur ums Schreiben, sondern auch um die menschliche Komponente. „Die erfolgreichsten Auftragsbiografen sind oft nicht die besten Autoren, sondern Universalisten. Jemand, der empathisch ist, zuhören kann und seinem Klienten die ganze Aufmerksamkeit und Bühne schenkt. Bei dem man sich wohlfühlt und leicht ins Reden kommt. Dafür braucht es keine Edelfedern, sondern die Chemie muss stimmen“, so Mäckler. Die ersten 40 Jahre im Leben eines alten Menschen wären in der Erzählung oft sehr lebendig und facettenreich. Danach stocke es oder werde langweilig, diese Erfahrung hat Mäckler öfters gemacht: „Daraus dann ein interessantes Buch zu machen und dranzubleiben, das ist die Kunst.“

Biografisches Schreiben sei ein Marathonlauf, kein Sprint. „Manchmal ist diese Geduld sehr anstrengend, doch am Ende werde ich durch diese Geschichten, die aus der Geduld heraus entstehen, belohnt“, ergänzt Seeber-Tegethoff. Grundsätzlich lohne es sich immer, eine Lebensgeschichte zu erzählen: „Wer sich mit Geduld auf eine längere Strecke einlässt, kommt glücklich ans Ziel“, sagt Mäckler. Mit gezielten Fragen helfe er seinen Klient*innen über Durststrecken hinweg: „Welche Träume hatten Sie … Erinnern Sie sich an eine besonders schöne Szene aus der Kindheit Ihrer Kinder … Wenn man sich darauf einlässt, kommen gute, interessante 150 Seiten zustande.“

Gleichzeitig erlaube die professionelle Distanz eine Ehrlichkeit, die innerhalb der eigenen Familie oft nicht möglich sei. Deshalb wünschten sich viele Klient*innen eine*n Auftragsbiograf*in. Die Branche sei zwar nach wie vor eine Nische, aber im Wachstum. Viele Journalist*innen bauten sich die Auftragsbiografik als zweites Standbein auf. Andreas Mäckler kennt circa 60 professionelle Auftragsbiograf*innen, es gebe jedoch keine genauen Zahlen, wie viele Menschen als Auftragsbiograf tätig seien. Zur besseren Vernetzung hat Andreas Mäckler 2004 ­gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen das Biographiezentrum als Vereinigung deutschsprachiger Biografinnen und Biografen gegründet.

Ein moderiertes Online-Treffen informiert einmal im Monat zu relevanten Themen wie Vertragsgestaltung, Umgang mit schwierigen Kund*innen und Datenverarbeitungsgesetzen. Wer eine Biografin oder einen Biografen sucht, wird hier fündig. Mittlerweile bietet das Zentrum Biografiekurse, Kompaktkurse zum Thema Auftragsbiografik und ein Ausbildungsprogramm. Hier füllt das Zentrum eine Lücke. „Es gibt in Deutschland keine Berufsausbildung, die offiziell zur (Auftrags-)Biografin qualifiziert,“ so Seeber-Tegethoff. Sie schätze es jedoch sehr, sich mit Kolleg*innen zu vernetzen. So sei der Austausch im Verein „Lebensmutig – Gesellschaft für Biografiearbeit“ eine große Bereicherung.

Die größte Bereicherung sei es jedoch, Menschen und ihre Geschichten kennenzulernen. Jede dieser Begegnungen sei wertvoll gewesen. „Eine Lebensgeschichte gab es, die mich ganz besonders beeindruckt hat, vor allem die Haltung und Lebensweisheit des Erzählers. 2017 habe ich seine Geschichte veröffentlicht unter dem Titel ‚Von einem, der stets die Gelegenheit ergriff‘.“ Auch für Andreas Mäckler hat die Arbeit nach 18 Jahren immer noch ihren Reiz: „Für mich bleibt die Herausforderung bei jeder Erzählung, sie so zu formen, dass sie sich interessant liest. Das gilt für den Waffenhändler und Millionär genauso wie für die Hausfrau und Mutter von drei Kindern."

Aus- und Weiterbildungen
• Biographiezentrum: Ausbildung zur Biografin oder zum Biografen
12 Monate. Abschluss: Zertifikat. Mit Michaela Frölich und Andreas Mäckler
A: Intensivseminar online: 28. März bis 1. April 2023 / 25. Bis 29. April 2023
B: Intensivseminar in Präsenz: 12. bis 19. Mai 2023
C: Coaching per Online-Treffen im Anschluss für A und B
Weitere Infos unter www.meine-biographie.com
• Lebensmutig e.V.: Lehrgänge zur Biografiearbeit in Kooperation mit verschiedenen Erwachsenenbildungsträgern
Basis- und Zertifikatslehrgänge, sowie Fortbildungen zum biografischen Arbeiten in Deutschland und Österreich an verschiedenen Standorten, Termine und Infos unter: www.lebensmutig.de
• Rohnstock Biografien: Zertifizierung „Zertifizierter Autobiografiker“
10-tägiges Intensivseminar und Coaching
Termine werden bekannt gegeben unter: www.rohnstock-biografien.de
  • Infodienst-Trainee-Stellen Der Artikel ist im WILA Arbeitsmarkt erschienen. Neben einem redaktionellen Teil bietet das Abo-Produkt hunderte ausgewählte aktuelle Stellen – handverlesen speziell für Akademiker*innen mit einem generalistischen Studienhintergrund.
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