Was für ein Theater?
Für erfolgreiches Audience Development sollten Theater ihr Publikum in die Planung einbeziehen. Foto: © Leonardo.Ai

Was für ein Theater?

Audience Development ist das Stichwort für alle Theatersparten: Fachkräfte können für die Erschließung neuer Zielgruppen an verschiedenen Stellschrauben drehen. Die Professorin für Kulturmanagement und -vermittlung Birgit Mandel erklärt, welche das sind.

Text: Anja Schreiber

Stadt- und Staatstheater gehören zu den am meisten geförderten Kultureinrichtungen in Deutschland. Dadurch stehen sie unter einem hohen Legitimationsdruck – und brauchen deshalb Rückhalt aus der Gesellschaft. Zwar erfährt die Theaterförderung eine hohe Zustimmung, dennoch gehen nur wenige Menschen regelmäßig ins Theater. Das zeigt zum Beispiel der „Relevanzmonitor Kultur“ aus dem Jahr 2023 – eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Danach sind 76 Prozent der Befragten der Meinung, dass Theaterhäuser in Deutschland weiter mit öffentlichen Mitteln finanziert werden sollten. Für 91 Prozent ist es darüber hinaus wichtig, die kulturellen Angebote der Theaterhäuser für kommende Generationen zu erhalten. Demgegenüber steht allerdings eine geringe Nutzung dieser Angebote: Zwei Drittel interessieren sich gar nicht oder weniger stark für Theateraufführungen, klassische Musikkonzerte, Oper-, Ballett- und Tanzinszenierungen. 43 Prozent der 18- bis 29-Jährigen haben das Gefühl, das Angebot richte sich gar nicht an sie. 39 Prozent fühlen sich im Theater fehl am Platz.

Auch die Forschung von Prof. Dr. Birgit Mandel, geschäftsführende Direktorin des Instituts für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim, kommt zu ähnlichen Ergebnissen. So lag 2019 das Interesse an klassischen Kulturangeboten wie Theater oder Museen bei gerade einmal knapp über einem Drittel. Nur zehn Prozent der Bevölkerung besuchen das Theater regelmäßig. Und nur ein kleiner Teil der Bevölkerung zählt zu den Intensivnutzer*innen der Kultureinrichtungen. „Außerdem ist das Interesse an klassischen Kulturangeboten bei den 18- bis 39-Jährigen deutlich weniger verbreitet als in der Generation 60plus“, erklärt Birgit Mandel. Deshalb müssten sich Theaterschaffende besonders um junge und überhaupt um neue Zielgruppen bemühen. „Der Anteil der Theaterbesucher*innen in der Bevölkerung und die absolute Zahl der Theaterbesuche sind rückläufig. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht“, so Birgit Mandel. Das liege auch daran, dass immer weniger Jugendliche in ihrer Kindheit und Jugend Theater kennengelernt hätten.

Programmwünsche berücksichtigen

Die verschiedenen Zielgruppen besser kennenlernen, ansprechen, miteinbeziehen: So lautet die Gegenmaßnahme, die die Bertelsmann Stiftung aus ihrer Befragung ableitet. Immerhin verlangten zum Beispiel 85 Prozent der Befragten speziell nach kinder- und jugendgerechten Angeboten. Weiterhin wünschten sich die Befragten Aufführungen, die sie zum Lachen bringen (83 Prozent) und die für jeden verständlich sind (81 Prozent). Außerdem gab mehr als die Hälfe an, die Stücke sollten gesellschaftliche und politische Diskussionen anstoßen.

Auch Birgit Mandel empfiehlt den Intendant*innen, kulturelle Interessen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen stärker zu berücksichtigen. Das Bedürfnis nach Unterhaltung sei ebenfalls ernst zu nehmen: „Immer mehr Theater nehmen unterhaltende Genres ins Programm auf. In Hildesheim wurde zum Beispiel eine eigene Musical-Sparte etabliert, mit der es gelingt, deutlich mehr junge Menschen zu erreichen. Auch das Maxim Gorki Theater in Berlin bietet sehr humorvolle Stücke an, die selten länger als zwei Stunden dauern. Es ist sehr erfolgreich darin, damit ein junges Publikum anzuziehen.“ Mehr Eigenproduktionen, die sich spezifisch mit lokalen und aktuellen Themen befassen, könnten ebenfalls eine breitere Schicht anziehen als Inszenierungen klassischer Stücke.

Aber nicht nur die Stücke und ihre Themen selbst, könnten mehr Besucher*innen ins Theater locken. „Um neue Zielgruppen zu erreichen, kommt auch der Theaterpädagogik und der Vermittlung eine Schlüsselfunktion zu“, betont Birgit Mandel. Diesbezüglich hätten fast alle von ihr befragten Theaterleitungen in den letzten Jahren ihre Aktivitäten ausgebaut. Eine Möglichkeit, den Wert und die Kunst des Theaters zu vermitteln, ist es zum Beispiel, Amateur*innen auf die große Bühne zu holen oder sich von Beiräten aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen beraten zu lassen.

Vorreiter: ländlicher Raum

Vorbildhaft sind in dieser Hinsicht die Bühnen auf dem Land. Bei einer aktuellen Befragung der Universität Hildesheim wurde deutlich, dass das Publikum aus ländlichen Regionen tendenziell sozial heterogener ist als in großen Städten. „Es werden dort nicht nur Menschen mit hohem Bildungsniveau erreicht. Vor allem die Amateurbühnen haben die ganze Bandbreite der Bevölkerung zu Gast“, erklärt Birgit Mandel. Es gibt auf dem Land eine große Vielfalt an Akteur*innen, die Theater anbieten, wie Landesbühnen mit ihren Gastspielen, private Gastspieltheater, die freie Szene und auch viele Hobbytheater. „Vor allem die Amateurtheater haben keine Probleme, ihr Publikum zu finden. Dazu gehören meist Verwandte, Freund*innen und Bekannte der Mitspielenden“, so Birgit Mandel. Solche Aufführungen sind zugleich ein soziales Event für die Dorfgemeinschaft. Außerdem wählen Theaterschaffende Programme und Stoffe aus, die dem Publikum vor Ort mehrheitlich Spaß machen wie etwa Komödien.

„Das Einbeziehen neuen Publikums erfordert jedoch immer auch die Berücksichtigung der Programminteressen neuen Publikums“, erklärt Birgit Mandel. „Eine Diversifizierung des Theaterangebots als Reaktion auf eine wachsende Diversität der Bevölkerung gehört dazu. Das Maxim Gorki Theater orientiert zum Beispiel seine Programmpolitik stark an den früher wenig im Theater repräsentierten migrantischen und LGTBQ-Milieus.“ Auch Kooperationen mit Bildungs- und Sozialeinrichtungen ermöglichen Theatern, ein junges und sozial diverses Publikum anzusprechen. „Das können neben Schulen auch Migranten- und Jugendzentren, Sportvereine oder Betriebe sein. Theaterschaffende sollten auf langfristige Kooperationen setzen und nicht nur auf geförderte Einzelprojekte“, so der Tipp von Birgit Mandel. Deshalb rät die Hochschullehrerin auch zu einem regelmäßigen Austausch mit diesen Institutionen. Aufseiten des Theaters sollte es dafür feste Ansprechpartner*innen geben.

Mit verständlicher Sprache einladen

Neben innovativen Programmen können Theaterschaffende neue und andere Besucher*innen auch durch ein zielgruppenorientiertes Marketing erreichen. Dazu Birgit Mandel: „Viele PR-Texte der Theater wenden sich immer noch an ein Fachpublikum.“ Aber das schrecke Laien ab. „Deshalb sollten die Texte populär und zugewandt formuliert sein.“ Auch die Präsenz auf Social-Media-Plattformen wie etwa TikTok oder Instagram helfe, ausgewählte und vor allem junge Zielgruppen leichter zu erreichen und zu begeistern. Denn auch das Image eines Theaters kann zur Barriere werden: Viele Menschen nehmen diese Institutionen als elitäre Orte wahr. Insofern rät Birgit Mandel auch zu einer deutlichen Profilierung und eventuell auch Neupositionierung der Theater mit offensiver Kommunikation jenseits des Fachjargons.

Voraussetzung für all diese neuen Aufgaben im sogenannten Audience Development ist es unter anderem, die Diversität unter den Theaterfachkräften selbst zu fördern. Auch in diesem Bereich gibt es bereits positive Erfahrungen: „Immerhin 60 Prozent der Theater, die ihr Personal im Hinblick auf kulturelle und soziale Herkunft erweitert haben, geben an, ein sehr oder eher diverses Publikum zu haben“, so Birgit Mandel. Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt den Theatern zudem, sich zu öffnen und zu vernetzen. Denn nach Meinung von 80 Prozent der Befragten des „Relevanzmonitor Kultur“ sollten sich Theaterhäuser als Treffpunkt für Menschen verstehen. Die Hochschullehrerin Birgit Mandel spricht sich ebenfalls dafür aus, dass sich Theater als öffentliche Treffpunkte begreifen sollten – auch über die Programme hinaus: „In England und Dänemark sind zum Beispiel ihre Foyers den ganzen Tag geöffnet und stehen allen Menschen als ‚common places‘ zur Verfügung. Dort können sie lesen, sich unterhalten oder miteinander spielen.“

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