Ein paar Gramm Unterschied
Eine Fehlgeburt ist ein traumatisches Erlebnis – bedeutet aber nicht automatisch, dass Fachkräfte krankgeschrieben werden. Wie die aktuelle Gesetzeslage ist, erfahren Sie hier.
Text: Janna Degener-Storr
Sie hatte ihre Chefin und die Personalabteilung ihrer Firma per E-Mail informiert, im Anhang die Geburts- und die Sterbeurkunde. Und mithilfe der Psychologin im Krankenhaus hatte sie sich Sätze zurechtgelegt, um auf mögliche Fragen aus dem Kollegium zu antworten: „Ich möchte nicht darüber reden“ zum Beispiel. Dann kehrte sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurück, drei Monate nach dem Erlebnis, das sie und ihr Leben für immer verändert hatte – und war überrascht über die Normalität, die dort herrschte.
Janina Betrich, die ihren echten Namen hier nicht lesen möchte, ist eine von rund 40.000 Schwangeren in Deutschland, die danach kein Baby in ihren Armen halten, weil das Kind zum Zeitpunkt der Geburt nicht lebensfähig war. Zählt man allein die Schwangerschaften, die während eines stationären Aufenthalts im Krankenhaus mit einem Abort enden, sind 53 von 1.000 werdenden Müttern betroffen – und ebenso viele Väter.
Mutterschutzfristen und Kündigungsschutz
Das deutsche Recht spricht von einer Totgeburt oder einer Stillen Geburt, wenn ein Baby zur Geburt mindestens 500 Gramm wiegt oder nach der 24. Schwangerschaftswoche geboren wird. Ist das Kind leichter oder kommt es noch früher auf die Welt, so handelt es sich dieser Definition zufolge um eine Fehlgeburt. Fehlgeburten passieren teilweise schon in den ersten Schwangerschaftswochen, so dass die betroffene Person gar nicht unbedingt etwas davon bemerkt. Etwa jede fünfte Schwangerschaft endet Schätzungen zufolge mit einem Abort.
Auch diese Fachkräfte haben Anspruch auf Mutterschutz, allerdings nur solche mit einer Totgeburt. Dazu können übrigens auch Frühgeborene zählen mit einem Gewicht zwischen 500 und 2.500 Gramm, die tot zu Welt gekommen sind. Allerdings ist Begriff „Frühgeburt“ im Gesetzestext nicht genau definiert. Wie nach einer regulären Geburt auch dürfen diese Mütter laut dem Mutterschutzgesetz (BGB) bis acht Wochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden. Bei Früh- oder Mehrlingsgeburten verlängert sich diese Frist auf maximal 18 Wochen. Personen mit einer Totgeburt können jedoch vorzeitig wieder ihrer Arbeit nachgehen, wenn sie dies ausdrücklich wünschen und nach ärztlichem Rat nichts dagegen spricht. Ausnahme sind lediglich die ersten beiden Wochen nach der Entbindung. Diese Erklärung kann jederzeit widerrufen werden. Bei einer Fehlgeburt hingegen gilt: Es gibt weder Mutterschutz noch Anspruch auf die Zahlung von Mutterschaftsgeld und auch der Kündigungsschutz – der sich auf den Zeitraum der Schwangerschaft bis zu vier Monaten nach der Entbindung bezieht – besteht nicht.
Väter, die ihr Baby verloren haben und von ihren Partnerinnen in dieser schwierigen Zeit womöglich dringend als Stütze gebraucht werden, haben keine gesonderten Rechte. Sie müssen weiterarbeiten – es sei denn, sie können sich aufgrund der seelischen Belastungen arbeitsunfähig krankschreiben lassen. Eine Konsequenz dieser Festlegungen trifft dagegen berufstätige Mütter: Sie können sich ebenso krankschreiben lassen, aufgrund der Schwangerschaft und der Geburt möglicherweise auch aufgrund körperlicher Beschwerden.
Kommt eine Gesetzesänderung?
Janina Betrich hat Respekt vor Frauen, die nach dem Verlust ihres Babys schnell wieder arbeiten wollen. Auch ihrem Mann habe es in dieser schwierigen Zeit geholfen, zumindest am Arbeitsplatz ein Stück Normalität zu erleben, erzählt sie. Dennoch sieht die junge Mutter die Unterscheidung von Tot- und Fehlgeburten kritisch: „Es hängt vom Gewicht deines Kindes ab, ob dein Schicksalsschlag anerkannt wird und ob du eine Regenerationszeit bekommst“, sagt sie. „Wie kann das sein?“
Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht vor, das Gesetz hier nachzuschärfen: „Den Mutterschutz und die Freistellung für den Partner bzw. die Partnerin soll es bei Fehl- bzw. Totgeburt künftig nach der 20. Schwangerschaftswoche geben“, heißt es da. Über 50.000 Menschen haben eine Petition unterschrieben, die sich für einen gestaffelten Mutterschutz einsetzt. „Aktuell ist es so: Verliert eine Frau am letzten Tag der 23. Schwangerschaftswoche ihr Baby, bekommt sie null Tage Mutterschutz. Verliert sie ihr Kind 24 Stunden später, am ersten Tag der 24. Woche, bekommt sie 18 Wochen Mutterschutz. Das ist nicht nur offensichtlich unfair, das ist auch medizinisch komplett sinnfrei“ erklärte die Initiatorin diese Idee Natascha Sagorski kürzlich bei einer Anhörung im Mai 2023 Bundestag. Auch eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht zu dem Thema wird aktuell geprüft.
Janina Betrich hätte ihren verlängerten Mutterschutz nicht missen wollen. Diese Zeit nutzte sie, um das Erlebte in einer Psychotherapie zu verarbeiten: „Für mich war es eine große Frage, wie ich darüber spreche – mit Freunden, aber vor allem auch auf der Arbeit – denn natürlich wusste dort jeder, was passiert war, und ich hatte Angst, dass mir jeder ansieht, wie ich mich fühle“, erinnert sich die 38-Jährige. Sie hätte sich schon in der Schwangerschaft mehr Verständnis von ihrer Chefin gewünscht und war auch mit ihren Kolleg*innen nicht befreundet.
Letztlich sei die Kommunikation in der Firma dann aber doch kein Problem gewesen: Nur eine Kollegin, deren Schwester selbst eine Totgeburt hatte, habe ihr gesagt, wie schön es sei, dass sie wieder zurück sei. Und einige der Vorgesetzten hätten vorsichtig nachgefragt, wie sie sich fühle und ob sie sich vorstellen könne, schon wieder viele Aufgaben zu übernehmen. Vor der ersten Geburt habe sie – trotz der Diagnosen in der Schwangerschaft – immer viel gearbeitet. Inzwischen hat Janina Betrich zwei weitere gesunde Kinder zur Welt gebracht. Über den Tod ihres ersten Babys sagt sie: „Wenn man nicht selber betroffen ist oder jemanden kennt, kann man sich einfach nicht vorstellen, was das bedeutet.“