Einmal mit Laien arbeiten
Bürger*innen sammeln per Smartphone ganz einfach Daten für die Forschung. Foto: © valiantsin – stock.adobe.com

Einmal mit Laien arbeiten

Wer forschen will, muss das Handwerk beherrschen. Allerdings brauchen auch Wissenschaftler*innen manchmal Unterstützung von der Bürgerschaft, zum Beispiel beim Erheben von Daten. Wie der Forschungsansatz Citizen Sciences funktioniert, welche Vorteile und Grenzen er bereithält.

Text: Maike von Haas

Wenn Bürger*innen Wasserproben aus dem hauseigenen Hahn entnehmen oder per Smartphone Barrieren im öffentlichen Raum dokumentieren, spricht man von Citizen Sciences. Zu Deutsch: Bürgerforschung oder Bürgerwissenschaft. In diesem Feld werden wissenschaftliche Projekte mithilfe von Personen durchgeführt, die nicht professionell in der Wissenschaft tätig sind. Die erste Forschung dieser Art wurde laut der Citizen Science Plattform „Bürger schaffen Wissen“ im Jahr 1900 in den USA betrieben. Damals hatten zu Weihnachten Forscher*innen die Bürgerschaft zum „Christmas Bird Count“ aufgerufen – einer Vogelzählung, die seitdem jedes Jahr durchgeführt wird.

Die fortschreitende Digitalisierung macht es dabei heute immer einfacher, Bürger*innen auf breiter Basis in Forschungsvorhaben einzubeziehen und somit ortsunabhängig Daten zu sammeln. So können Insekten oder Vögel im eigenen Garten gezählt, Pilzvorkommen in Wäldern dokumentiert oder Wattwürmer im Wattenmeer kartographiert werden. Diese Vorgehensweise wird auch „Crowdsourcing“ genannt und bezeichnet den Prozess, wenn Forscher*innen Arbeitsschritte an eine Gruppe Freiwilliger über das Internet auslagert. In den Möglichkeiten zeichnen sich allerdings auch direkt die Grenzen der partizipativen Methode ab: für komplexere Fragestellungen oder Grundlagenforschung ist sie nicht dienlich.

Aber nicht nur für Erhebung ökologischer Daten, auch in den Kultur- und Geisteswissenschaften kommt Citizen Science seit den 1970er-Jahren zum Einsatz, damals in sogenannten Zukunftswerkstätten. Zehn Jahre später kamen die ersten „Wissenschaftsläden“ hinzu. Diese verfolgten das Ziel, sowohl wissenschaftliche Ergebnisse auf Fragestellungen der Zivilgesellschaft zu übertragen als auch gesellschaftsrelevante Themen in die Wissenschaft zu integrieren. Bei dieser Spielart der Citizen Science geht es um Forschungen zum Zusammenleben, dem Kulturerbe oder zu Denkweisen von Menschen. „In diesen Disziplinen ist die Beteiligung von Laien in der Forschung noch relativ selten und daher Pionierarbeit“, ist auf der Website des partizipativen Forschungsprojektes „Nürnberg forscht“ nachzulesen.

Dr. Justus Henke am Institut für Hochschulforschung (HoF) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat zu diesem Thema geforscht. Mit seinem Team hat er in der Zeit von 2018 bis 2021 am Forschungsprojekt „SoCiS: Social Citizen Science zur Beantwortung von Zukunftsfragen“ gearbeitet und im Rahmen dieses Projektes auch ein Handbuch als Open Educational Ressource (OER) erstellt. Dieses verspricht Interessierten eine praxisnahe Einführung in das Thema Citizen Science in den Geistes- und Sozialwissenschaften.

Verschiedene Beteiligungsstufen

Partizipative Forschung hat sowohl das Ziel hat, gesellschaftliche Akteure und Bürger*innen in wissenschaftliche Forschung einzubinden als auch die Arbeitsweisen und Methoden der Wissenschaft durch Forschungspraxis zu vermitteln. „Dabei geht es gleichzeitig um die Wissensproduktion als auch um Teilhabe in der Gesellschaft. Die Menschen erfahren durch die Einbindung in ein Projekt, wie Wissenschaft funktioniert und gleichzeitig dokumentieren sie Wissen, das ohne ihre Mitwirkung manchmal gar nicht erschlossen werden könnte“, erklärt Justus Henke. Dabei gibt es drei Intensitätsgrade der Mitwirkung in Citizen Science: die kontributive, die kollaborative und die ko-kreativen Beteiligung. In ersterem bitten laut Justus Henke Wissenschaftler*innen in der Bürgerschaft um Mitwirkung. Sie haben vorrangig die Aufgabe, Daten zu sammeln.

Nur selten werden sie an der Analyse oder Auswertung der Forschungsergebnisse beteiligt. In kollaborativen Projekten wirken die Beteiligten stärker mit und werden auch in die Analyse und Aufbereitung der Daten eingebunden, wenn es etwa darum geht, wie Ergebnisse verbreitet oder auch präsentiert werden können wie beispielsweise in Ausstellungen oder innerhalb von Webportalen. In aufwändigen ko-kreativen Beteiligungsprozessen sind mitforschende Bürger*innen an fast allen Schritten beteiligt und auch mit Fragen befasst wie: Welche Erhebung ist angemessen? Werden Interviews geführt? Wen binden wir ein? Was wollen wir überhaupt?

Ein beispielhaftes Forschungsprojekt, in dem die Stärkung der Bürgerschaft im Zentrum steht, ist „Nürnberg forscht“. Das Projekt stellt sich der Frage, wie Einwohner*innen mit eigener Zuwanderungsgeschichte die Stadt sehen, in der sie leben. Die Projektwebseite gibt an, dass die Mitforschenden durch aktive Beteiligung als Laienforschende nicht nur neue Stärken entdecken, Kompetenzen weiterentwickeln und Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens erlernen, sondern auch eigene Erfahrungen in Bezug auf Integration reflektieren können. Die eigentliche Forschungsphase ist dabei auf zwei Jahre angelegt. Ein weiteres Beispiel für Citizen Science mit einem ko-kreativen Fokus ist das Projekt „Unerhört! Langzeitarbeitslose Nichtwähler melden sich zu Wort“. Die Studie wurden vom Sozialunternehmen Neue Arbeit gGmbH in Kooperation mit dem Evangelischen Fachverband für Arbeit und soziale Integration (EFAS) herausgegeben. Wissenschaftlich begleitet wurde das Projekt von Professor Franz Schultheis von der Universität St. Gallen sowie von Studierenden der Universität Stuttgart. Die Studie erforscht, warum die Anzahl von Langzeitarbeitslosen unter den Nichtwähler*innen überdurchschnittlich hoch ist. „Hierfür hat man aktuell Langzeitarbeitslose als Akteure ins Boot geholt und diese befähigt, Interviews mit anderen Langzeitarbeitslosen zu führen. So konnten ganz andere Ergebnisse erzielt werden als Forscher*innen es hätten erreichen können“, erklärt Justus Henke.

Befähigen und einbeziehen

Geht es um Lebens- und Alltagswirklichkeiten, aber auch im Rahmen von Nachhaltigkeitsherausforderungen bietet sich der Citizen-Science-Ansatz an. Hier werden insbesondere Themen aus Politik, Gesellschaft, Geschichte, Kultur sowie Bildung im Sinne von Wissenserwerb und Wissenschaftsbildung bearbeitet. Konkret kann es um Fragestellungen der Daseinsvorsorge sowie Infrastruktur gehen, um Mobilität, Demokratie, Demografie, Gesundheit, Integration, Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Stadtgeschichte, Heimatforschung, Ahnenforschung und Archäologie. Damit ein Citizen-Science-Vorhaben gelingt, empfiehlt es sich, mindestens ein halbes Jahr Vorlauf einzuplanen. In dieser Zeit gilt es, geeignete Stakeholder aus Kommunen und der Zivilgesellschaft ins Boot zu holen. Auch müssen Beteiligte integriert und befähigt werden, die Forschungen durchzuführen. Eventuell bedarf es eines geeigneten Ortes, an dem der Austausch mit den Bürger*innen stattfinden kann. Zudem müssen Fördermittel für Koordinationsaufgaben akquiriert werden, wenn diese Tätigkeiten nicht innerhalb von Dauerstellen ausgeübt werden können.

Die größte Herausforderung in Citizen-Science-Projekten ist es laut Justus Henke, motivierte und geeignete Mitforschende zu finden. Weil die Einbindung von Nicht-Wissenschaftler*innen in die Forschungsprozesse immer auch Zeit kostet, sind die laienhaften Mitforschenden häufig älter und sie haben in der Regel auch einen höheren Bildungsstand. Menschen zu erreichen, die das Bildungssystem früh verlassen haben beziehungsweise mussten oder vielleicht niemals Teil davon waren, stelle laut Justus Henke eine komplexe Aufgabe dar. Auch vulnerable beziehungsweise marginalisierte Gruppen zu erreichen, kann sich für die Forscher*innen schwierig gestalten – vor allem, wenn keines der Teammitglieder Teil dieser Gruppen ist. Allerdings, so Justus Henke, sei dieser Schritt wichtig, damit in den Forschungsergebnissen diverse Perspektiven sichtbar werden können.

Selbst aktiv werden

Grundsätzlich kann jede*r ein Citizen-Science-Projekt ins Leben rufen. In der Praxis kann ein solches Projekt von Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen gestartet werden, aber auch Kommunen, Behörden, Vereine und sogar Einzelpersonen können partizipative Projekte initiieren. Unterstützer in der Umsetzung von Projekten kann das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sein, das unterschiedliche Fördermaßnahmen anbietet. Förderungen gibt es auch auf Landes- und kommunaler Ebene sowie durch Stiftungen oder Hochschulen. Einen Überblick über gegenwärtige Citizen-Science-Projekte oder Austausch sei bietet die Plattform „Bürger schaffen Wissen“. Hier können Initiator*innen von Citizen-Science-Projekten ihre Vorhaben darstellen, Erfahrungen austauschen und sich vernetzen.

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