Zusammen Vielfalt vermitteln
Die Vielfalt menschlicher Lebensweisen: Das erforschen die Ethnolog*innen. Aber wie ist die Arbeitsmarktlage für dieses Berufsfeld und was sind ihre Aufgaben?

Zusammen Vielfalt vermitteln

Ethnolog*innen haben die Kompetenz zum Perspektivenwechsel, sie sind Expert*innen für Teilnehmende Beobachtung und Interkulturelle Kommunikation. Der Bundesverband für Ethnolog*innen will die Stärken sichtbar machen.

Text: Annika Voßen

Dr. Anette Rein ist Ethnologin und Erwachsenenbildnerin. Sie hat den bfe mitgegründet und ist 1. Vorsitzende des Verbands. Foto: privat

WILA Arbeitsmarkt: Auslöser für die Gründung des bfe vor einigen Jahren war die schwierige Situation, in der sich freischaffende Ethnolog*innen und Berufsanfänger*innen noch immer befinden. Was waren oder sind die Probleme?
Dr. Anette Rein: Die Gründung des bfe 2012 war geprägt durch eine vielfach unbefriedigende Situation für Freiberufler*innen, die damals öffentlich kaum in Erscheinung getreten sind und entsprechend auch nicht wahrgenommen wurden. Es gab kein Sprachrohr, weder nach außen noch nach innen. Jede*r hat so vor sich hingearbeitet und kaum über die eigene oft prekäre Lage und die damit verbundenen Ängste und Nöte gesprochen.

Das wollten wir ändern; nicht zuletzt, um dem statusmäßigen Auseinanderdriften zwischen universitären Arbeitsfeldern und der ethnologischen Praxis etwas entgegenzusetzen. Wird die Zahl der Hochschulabsolvent*innen in Relation zu den deutschlandweit rund 50 Professuren und 30 Museen gesetzt, wird schnell klar, dass dort ein Großteil der Ethnolog*innen beruflich nicht dauerhaft Fuß fasst. Es erschien uns an der Zeit, für die Belange von Freiberufler*innen und ihr oft nicht wertgeschätztes Engagement (zum Beispiel in der Museumsarbeit) zu veröffentlichen, eine starke Interessensvertretung zu gründen und eine digitale Heimat zu bieten.

Als Mitglied im bfe konnten sie auf ihrer Webvisitenkarte für sich werben und waren anhand genannter Kompetenzbereiche in der Suchmaske auffindbar. Weiterhin ging es uns um die öffentliche Wahrnehmung des Fachs Ethnologie und um dessen Allgemeinverständlichkeit. Uns war es ein wichtiges Anliegen zu zeigen, was Ethnolog*innen können, offene Briefe zu schreiben und uns an Tagungen und Diskussionen zu beteiligen. Das ist bis heute so geblieben.

Sie haben inzwischen das Wort „freischaffend“ aus Ihrem Verbandstitel gestrichen. Seit Ende 2020 sind Sie als Verband für alle Ethnolog*innen offen. Warum dieser Richtungswechsel?
Im Laufe der Jahre haben wir festgestellt, dass der Zusatz „freiberuflich“ auch zu einer gewissen Verunsicherung geführt hat. Ethnolog*innen, die beispielsweise zwischen dem Status einer befristeten Festanstellung und Freiberuflichkeit angesiedelt waren oder als Studierende noch gar nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung standen, konnten nicht einschätzen, ob der bfe auch etwas für sie sei.

Es ist wichtig zu vermitteln, dass ethnologische Berufsbiografien häufig zwischen unterschiedlichen beruflichen Aggregatszuständen zwischen prekärer Akademiebeschäftigung, freiberuflicher Tätigkeit und nicht ethnologisch genannter aber oft ethnologieaffiner Angestelltentätigkeit wechseln. Deshalb haben wir 2020 beschlossen, offen für alle zu sein, die eine ethnologische Signatur haben und sich dem Fach verpflichtet fühlen. Letztlich geht es um Perspektivenvielfalt, Austausch und Vernetzung.

Wie ist das gesellschaftspolitische Standing der Ethnologie insgesamt? Wird die Arbeit inzwischen mehr anerkannt?
Die Ethnologie ist sehr oft umbenannt worden, was das Fach nicht besonders stärkt – früher hieß es Völkerkunde, dann Ethnologie, jetzt heißt es Kultur- und Sozialan­thropologie/Sozial- und Kulturanthropologie. Auch gibt es eine anteilige Schnittmenge mit Disziplinen, die in der öffentlichen Wahrnehmung etablierter sind, wie beispielsweise die Kunstgeschichte.

Bei Positionen, die auch mit Ethnolog*innen oder im Idealfall interdisziplinär hätten besetzt werden können, gehen die Fachvertreter*innen der Ethnologie häufig leer aus, wie zuletzt zum Beispiel im Humboldt Forum in Berlin. Selbstverständlich müssen wir uns auch kritisch selbst befragen, wie es zu dieser Unterrepräsentation kommt und als bfe für mehr Einmischung und Sichtbarkeit sorgen.

Was zeichnet Ethnolog*innen aus?
Unsere Mitglieder arbeiten derzeit in 90 Ländern und sprechen 37 Sprachen. Neben den Sprachkenntnissen ist Interkulturelle Kompetenz eine Stärke. Es gibt im bfe viele Trainer*innen, die sich auf dieses Themengebiet spezialisiert haben. Ethnolog*innen sind außerdem stark in der Methodenvielfalt: Sie verstehen sich auf Teilnehmende Beobachtung und Aktives Zuhören. Sie beobachten Mikroprozesse und ordnen diese in Makroprozesse ein: Individuen oder kleine Gruppeneinheiten stehen dabei im Vordergrund.

Wie verhalten sich Individuen? Wie begründen sie ihre Entscheidungen? Was passiert in kleinen alltäglichen Momenten? Diese sind auf den ersten Blick oft nicht spektakulär, aber wenn man Bezüge herstellt, werden Zusammenhänge deutlich. Es geht darum, globales und lokales Wissen in Kontexten zu analysieren, in beweglichen Horizonten zu denken, als Grenzgänger*innen zwischen dem Eigenen und dem Anderen zu vermitteln.

Wie entwickelt sich die Arbeitsmarktlage?
Ethnolog*innen werden auch heute noch vielfach als Forschende gesehen, die in weit entlegene Weltgegenden aufbrechen, um dort andere Lebensweisen zu untersuchen. Das ist jedoch eine überholte Wahrnehmung, denn zeitgenössische Themen liegen ebenso vor der eigenen Haustüre. Ethnolog*innen untersuchen beispielsweise Firmenkulturen und Nachbarschaften oder beschäftigen sich mit der Politik des Raums und den daraus resultierenden Ansprüchen verschiedener Gruppen.

Ethnologie verfolgt das Ziel, die Vielfalt kollektiver menschlicher Lebensweisen zu erforschen, Weltverständnisse zu entschlüsseln und kulturübergreifend verstehbar und erklärbar zu machen. Durch die immer wichtiger werdende Provenienzforschung und die Aufarbeitung der Kolonialzeit sind neue Arbeitsbereiche für Ethnolog*innen entstanden. Mit ihrem interkulturellen Wissen und ihren Sprachkenntnissen sind sie gefragt, um nicht nur in Archiven zu forschen, sondern bei unklaren Sammlungskontexten und damit verbundenen Rückgabeverhandlungen direkt mit den Herkunftsgesellschaften zusammenzuarbeiten. Insgesamt werden die Laufzeiten von Projektstellen allerdings immer kürzer.

In welchen Bereichen arbeiten Ihre Mitglieder?
Unter den Mitgliedern sind sowohl Festangestellte als auch befristete Angestellte an Universitäten. Viele sind freiberuflich tätig als Berater*innen und geben Workshops, zum Beispiel im interkulturellen Bereich. Sie arbeiten für NGOs im Bereich der Geflüchtetenhilfe, in der Entwicklungszusammenarbeit und in der Projektarbeit, in Kulturämtern, in der Trend- und Marketingforschung, als Mediator*innen und Coaches sowie als Journalist*innen und in Museen.

Wie kann der Jobeinstieg gelingen?
Ich würde bereits im Studium mit Praktika anfangen und in verschiedene Berufsfelder reinschnuppern. Von Anfang an Netzwerke knüpfen, Tagungen besuchen, im Anschluss die neuen Kontakte anschreiben und im Gespräch bleiben. Kontinuierlich den eigenen Lebenslauf aktualisieren. Sich trainieren, Fragen zu stellen und ausloten: Was ist wichtig für die Bereiche, in denen ich gerne arbeiten würde? Eine Marktanalyse erstellen. Auch die eigenen Interessen herausfinden, die eigenen Kompetenzen erkennen und die eigenen Ängste analysieren: Wie mutig bin ich überhaupt? Was ist mir ­wichtig?

Sie wollen mit ethnologischen Instituten kooperieren. Was ist hier die Idee?
Wir wollen Studierenden eine frühe Vernetzung anbieten. Langfristig können wir uns auch ein Mentoringprogramm vorstellen. Wir bieten an Hochschulen bereits Vorträge zu Berufsfeldern oder Praxismodule an. Das Ethnologie-Studium ist ja keine Berufsausbildung, man wird nicht vorbereitet auf eine ethnologische Praxis, sondern man erlernt Feldforschungsmaterial zu sammeln, Lebensverhältnisse zu entschlüsseln, Mikro- und Makroprozesse zu analysieren.

Inzwischen haben die Unis im Rahmen des Bologna-Prozesses nachgerüstet und Career Center sowie Schreibzentren bieten Kompetenzseminare an. Aber bei diesen Veranstaltungen kommen die Teilnehmer*innen aus allen Fakultäten. Es wäre berufsfördernd, wenn man an ethnologischen Instituten vermehrt Praxismodule einrichten würde.

Hat die Coronapandemie das Berufsfeld und den Berufsalltag verändert?
Obgleich die Pandemie physische Begegnungen einschränkte, die für unsere Arbeitsweise existenziell sind, hat sie auch dazu beigetragen, alternative Medien für einen Austausch nutzen. Für den bfe waren alle digitalen Formate ein Erfolg, mit dem wir nicht gerechnet hatten. In unserer digitalen Vortragsreihe „Erfassen – Vermitteln – Gestalten. Ethnologische Impulse verändern!“ loggten sich zum Beispiel über 250 Teilnehmer*innen ein!

Welche Möglichkeiten gibt es für die Mitglieder, sich zu engagieren?
Neben Mitarbeit im Vorstand, an der Webseite oder beim Newsletter kann man auch Stellenangebote über die interne Postliste posten, kollegiale Beratung anbieten und sich in Arbeits- und Expertengruppen engagieren.

Mit welchen Themen beschäftigt sich Ihr Verband aktuell?
Wir sind dabei, die Webseite umzustellen, Kompetenzen neu zu ordnen sowie die problematische Einteilung nach Ethnien aufzulösen. Wir arbeiten an der Anwerbung weiterer Kooperationsmuseen, an unserem Workshop „Wie mache ich mich selbstständig?“, sowie an der vierten digitalen Vortragsreihe zu Berufsperspektiven. Darüber hinaus bereiten wir eine weitere Publikation vor in unserer Reihe „Lebenswelten. Erfassen – Vermitteln – Gestalten“. Weiterhin planen wir schon den nächsten Workshop. Für einen rein ehrenamtlich aufgestellten Verband haben wir damit gut zu tun und freuen uns über jedes Mitgliederengagement.

bfe Bundesverband für Ethnolog*innen e.V.
 
Der Bundesverband für Ethnolog*innen e.V. wurde 2012 gegründet und 2021 neu aufgestellt. Der Verband hat rund 60 Mitglieder. Die Vorteile einer Mitgliedschaft sind:
  • Personalisierte digitale Visitenkarte
  • Freier Eintritt zu derzeit 41 Museen
  • Austausch und Vernetzung bei digitalen Stammtischen, Filmabenden und in Expert*innengruppen
  • Workshops für den Berufseinstieg
  • Hilfestellung bei Grundfragen der Freiberuflichkeit
  • Präsentation im Newsletter
Jahresbeitrag:
  • 100 Euro für Vollmitglieder
  • 60 Euro ermäßigt (Studierende, Mitglieder von Partnerverbänden)
Webseite:
  • Infodienst-Trainee-Stellen Der Artikel ist im WILA Arbeitsmarkt erschienen. Neben den Artikeln im Online-Magazin bietet das Abo-Produkt mehrere hundert ausgewählte aktuelle Stellen pro Wochen – von Montag bis Freitag aktualisiert und handverlesen speziell für Akademiker*innen mit einem generalistischen Studienhintergrund.
  • Die Abonnentinnen und Abonnenten erhalten durch den redaktionellen Teil und die Stellen-Datenbank einen breiten und dennoch konkreten Überblick über derzeitige Entwicklungen in Berufsfeldern und Branchen, können sich anhand der ausgewählten Jobs beruflich orientieren und bleiben so bei der Jobsuche am Ball. Unsere Erfahrung: Viele Abonnent*innen stoßen auf Tätigkeiten, die sie gar nicht auf dem Schirm hatten.

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