„Die Diagnose bringt Erleichterung"
Bei Sonja Borowski wurde Legasthenie diagnostiziert, doch sie lernte, damit umzugehen. Nach ihrem erfolgreichen Bachelor- und Masterstudium arbeitet sie als Sozialpädagogin.
Interview: Daniela Obermeyer
WILA Arbeitsmarkt: Wie äußert sich die Legasthenie bei Ihnen?
Sonja Borowski: Jeder Mensch hat seine eigene Legasthenie. Ich habe heute die meisten Schwierigkeiten mit Fremdsprachen. Darüber hinaus fällt es mir im Alltag schwer, wenn mir jemand etwa am Telefon einen Namen nennt – auch buchstabiert. Dabei reicht nicht die Zeit, das Diktierte korrekt aufzuschreiben. Zudem ist meine Handschrift unleserlich, vor allem wenn es schnell gehen muss.
Sie arbeiten an einer Hamburger Brennpunktschule mit Schüler*innen der zehnten Klasse. Spielt die Legasthenie beruflich eine Rolle?
Ich gehe ziemlich offen damit um. Nach meiner Erfahrung zeigt dann mein Gegenüber eher Interesse als Vorurteile. Meine Kolleginnen und Kollegen wissen, dass bestimmte Schulfächer nicht meine Stärke sind und ich dort fachlich weniger unterstützen kann. Stattdessen kann ich meine Expertise im Umgang mit Lese- und Rechtschreibschwächen anbieten, wovon durchschnittlich in jeder Klasse ein Kind betroffen ist.
Wie haben Sie sich auf Ihrem Berufsweg Unterstützung geholt?
Ab der zweiten Klasse haben meine Eltern fünf Jahre lang eine Lerntherapie bezahlt. Während des Fachabiturs habe ich das wieder gemacht, diesmal gezielt für Englisch. Im Studium habe ich meine Arbeiten gegenlesen lassen und für Prüfungen einen Nachteilsausgleich beantragt, der mir mehr Zeit verschafft hat. Im Hörsaal saß ich mit Laptop, was mir das Mitschreiben erleichtert hat. Außerdem hat mir eine Psychotherapie geholfen: Aus der Schulzeit hatte ich große Versagensängste, die wiederum zu Leistungsdruck im Studium geführt haben.
„Es verschafft eine unheimliche Erleichterung, wenn man merkt: Ich bin nicht selbst schuld!“
Welche Hilfen gibt es für Erwachsene im Berufsleben?
Wichtig sind auf jeden Fall die Testung auf eine Legasthenie und die offizielle Diagnose. Es verschafft eine unheimliche Erleichterung, wenn man merkt: Ich bin nicht selbst schuld! Anlaufstelle ist der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. (BVL) beziehungsweise die Landesverbände oder die Hausärztin oder der Hausarzt. Der Austausch in Selbsthilfegruppen ist ebenfalls hilfreich, weil man feststellt, dass man nicht allein ist.
Wie gut das tut, habe ich an dem großen Zuspruch auf mein Buch „Es ist normal, verschieden zu sein“ gemerkt. Das ist kein Fachbuch, sondern dort schildern 30 Menschen mit Legasthenie oder Dyskalkulie ihre Biografie. Mir hilft aktuell außerdem eine Traumatherapie. In der Schule wurde ich wegen der Legasthenie stark gemobbt, das hinterlässt bis heute Spuren.
Macht eine Lerntherapie als Erwachsener noch Sinn?
Ja, aber man muss das in der Regel selbst bezahlen und hat wenig Auswahl, denn die meisten Angebote sind für Kinder. Ich finde es wichtiger, sich innerlich zu stärken. Denn trotz aller Bemühungen wird man nie so gut lesen und schreiben wie die anderen. Das zu akzeptieren ist ein langer Prozess.
„Menschen mit Legasthenie müssen immer sehr kreativ sein und sich eigene Lernstrategien überlegen.“
Stichwort Bewerbung: Erwähnen Sie die Legasthenie in diesem Rahmen?
In meinem Lebenslauf steht unter „Soziales Engagement“, dass ich eine Selbsthilfegruppe im Rahmen des BVL gegründet habe, die „Jungen Aktiven“. Daraus kann man seine Schlüsse ziehen und bei Bedarf nachhaken. Wenn im Vorstellungsgespräch nach den starken und schwachen Seiten gefragt wird, erkläre ich, dass viele vielleicht meine Legasthenie als Schwäche definieren würden, ich das mittlerweile jedoch als Stärke sehe: Menschen mit Legasthenie müssen immer sehr kreativ sein und sich eigene Lernstrategien überlegen.
Wie sollten Vorgesetzte, Kolleginnen und Kollegen sich verhalten?
Vorgesetzte können sich zum Beispiel überlegen, wie man die speziellen Fähigkeiten von Menschen mit Legasthenie nutzen kann. Ansonsten wünsche ich mir einen offenen Umgang miteinander. Wen es wirklich interessiert, der kann mich gerne zu dem Thema befragen.
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