Da sein, wenn es drauf ankommt
Kommt es zum Krisenfall, zählt jede Hilfe. Wer Betroffene beruflich unterstützen möchte, kann sich für die humanitäre Hilfe ausbilden lassen. Anpacken können Personen aus verschiedenen Fachbereichen.
Text: Janna Degener-Storr
Tagtäglich berichten die Medien über den Krieg in der Ukraine. Wir hören im Radio von Menschen, die in Städten ohne medizinische Hilfe, Strom und Lebensmittel festsitzen, und von anderen, denen die Flucht gelungen ist. Wir sehen im Fernsehen, wie Helfer*innen Spenden sammeln, Hilfsgüterlieferungen organisieren, Suppenküchen und psychosoziale Unterstützung anbieten. Die Hilfe kommt von engagierten Privatleuten, aus der Politik und von Fachkräften aus der UN oder humanitären Organisationen wie beispielsweise dem Aktionsbündnis Katastrophenhilfe, der Caritas oder dem Roten Kreuz.
Von der Uni zur NRO
Beruflich im Bereich der humanitären Hilfe tätig werden können Expert*innen ganz unterschiedlicher Fachrichtungen. Der Geograf Jürgen Clemens beispielsweise hatte sich in seiner wissenschaftlichen Forschung auf Südasien spezialisiert und stieg etwa ein halbes Jahr nach dem großen Tsunami in Sri Lanka im Jahr 2004 bei den Maltesern ein, um bei der Wiederaufbauhilfe zu unterstützen. Seine Kolleg*innen, die permanent vor Ort waren, hatten damals schon Bestandsaufnahmen durchgeführt und erste Wiederaufbauprojekte initiiert, Kontakte mit örtlichen Institutionen und NROs aufgenommen und auch Spenden gesammelt.
Jürgen Clemens kümmerte sich von Köln aus vor allem darum, die Verwendung der Mittel zu planen, Personal auszuwählen und Kooperationsverträge auszuhandeln sowie gegenüber den Geldgebern Bericht zu erstatten. Später half er dann zunehmend mit, zusätzliche Anträge bei den zuständigen Bundesministerien oder Stiftungen einzureichen, um weitere Gelder zu akquirieren, bevor er diese Aufgabe schließlich eigenständig durchführte und auch Mitarbeiter*innen in diesem Feld anlernte und leitete.
Von dieser Position aus wechselte der ehemalige Wissenschaftler bei den Maltesern zunächst als Teamleiter ins Afrikateam, dann in die Pressestelle, ins Qualitäts- und Wissensmanagement und schließlich – nach den Flutkatastrophen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im vergangenen Jahr – in die Hochwasserhilfe. Hier ist er heute als Koordinator und Fachberater tätig.
Jürgen Clemens profitierte bei seinem Quereinstieg davon, dass er in seiner anwendungsbezogenen Forschungs- und Lehrtätigkeit immer einen ganz bewussten Bezug zu Fragen der Entwicklungszusammenarbeit hergestellt und dabei die Bezüge zu seinen Nebenfächern Agrarpolitik und Entwicklungsbiologie genutzt hatte. Auch die Erfahrungen, die er in der Universität bei der Beantragung und Abrechnung von Drittmitteln gesammelt hatte, halfen ihm.
Wer in diesem Bereich arbeiten möchte, betont er, muss bereit sein, sich neben analytischen und konzeptionellen Aufgaben auch gewissenhaft um administrative Tätigkeiten zu kümmern: „Dazu gehören auch kleinteilige Arbeiten wie das Sammeln und Prüfen von Belegen und das Zusammenstellen von Excel-Tabellen für die Berichterstattung und Spendenverwendung.“
Mit Mut zur Lücke
Bei den Maltesern arbeiten aber auch viele Quereinsteiger*innen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Sprach- und Regionalkenntnisse, die sie aus dem Studium mitbringen, benötigen sie für die Tätigkeit in der humanitären Hilfe jedoch oft gar nicht unmittelbar: „Weil der Fachbereich an der Kölner Uni groß ist, haben wir zum Beispiel viele Einsteiger*innen aus den Regionalwissenschaften Lateinamerika, die für uns aber beispielsweise im Asien- oder im Afrikateam tätig sind“, erzählt er. Andere brauchen ihre spezifischen Kompetenzen wie er selbst zwar für den Einstieg, werden dann aber im Laufe ihrer Karriere in Regionen eingesetzt, die mit ihrer ursprünglichen Qualifikation wenig zu tun haben.
Das unterscheidet die humanitäre Hilfe deutlich von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit, wie sie Institutionen wie die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit anbieten, erklärt Jürgen Clemens: „Letztlich ist jede humanitäre Katastrophe irgendwann abgearbeitet. Wenn unsere Programme, auch die der sogenannten entwicklungsorientierten Übergangshilfe, ausgelaufen sind, wenn sie nicht weiter finanziert werden, verlassen wir das Land wieder und unser erfahrenes Personal wird in anderen Regionen eingesetzt“, sagt der Experte.
Stattdesssen seien analytische Kenntnisse und Managementerfahrungen sowie auch Mut zur Lücke gefragt: „Bei humanitären Einsätzen vor allem in Konfliktregionen oder in der unmittelbaren Nothilfephase müssen bei schlechter Informationslage manchmal kurzfristig Entscheidungen getroffen werden. Dann gilt es abzuwägen, wie viel Sorgfalt trotz der nötigen Eile gefragt ist – „good enough“. Das ist immer ein Balanceakt zwischen wissenschaftlichen, technischen und methodischen Ansprüchen und den Herausforderungen im aktuellen Kontext“, sagt Clemens.
Wer neben breiten fachlichen Kenntnissen diese Soft Skills mitbringt, bereit ist, Reisetätigkeiten zu übernehmen und Verantwortung zu tragen, außerdem anfangs auf ein Topgehalt und eine UN-Einrichtung als Arbeitgeber verzichten kann und auch gegebenenfalls für eine konfessionell gebundene Organisation wie die Malteser aktiv sein will – der hat in diesem Arbeitsfeld nach der Einschätzung des Experten gute Einstiegschancen. Zumal der Personalbedarf mit der Anzahl der Krisen steigt.
Internationales Studium
Eine solide Basis für den Einstieg in dieses Berufsfeld bietet unter anderem der englischsprachige, internationale, interdisziplinäre Masterstudiengang „International Humanitarian Action“, der vom Network on Humanitarian Action angeboten wird und deshalb auch als NOHA-Master bekannt ist. Der viersemestrige, kostenpflichtige Studiengang richtet sich an Absolvent*innen geistes- oder naturwissenschaftlicher Fächer. Er steht aber grundsätzlich auch Absolvent*innen anderer Studiengänge offen.
Neben der Ruhr-Universität Bochum sind sieben Partnerhochschulen in verschiedenen europäischen Ländern beteiligt. Teil des Studiums ist ein Auslandsaufenthalt im zweiten Semester. Das dritte Semester verbringen die Studierenden als Praxissemester im In- oder Ausland oder als Auslandssemester an einer außereuropäischen Partneruniversität.
„Da die Studierenden aus aller Welt kommen, erfahren sie schon im Kontakt miteinander die Bedeutung von interkultureller Kompetenz, die bei einer Tätigkeit in einer internationalen Organisation beispielsweise auch im Umgang mit anderen Arbeitsstrukturen gefragt ist. Die zwei Pflichtmobilitäten geben den Studierenden einen Vorgeschmack auf das, was sie im internationalen Arbeitsumfeld erwartet. Hier ist einerseits Organisationstalent gefragt, andererseits aber auch eine gewisse Frustrationstoleranz und ein Bewusstsein für die Herausforderungen einer Tätigkeit in der humanitären Hilfe“, erklärt Leonie Kothe, Ansprechpartnerin für den NOHA-Master an der Ruhr-Universität Bochum.
Die Studierenden sollen lernen, komplexe Problemzusammenhänge zu begreifen, um praktische Lösungskonzepte zu entwickeln und an deren Umsetzung mitzuwirken. Auf dem Stundenplan stehen unter anderem Grundlagen in Völkerrecht, Entwicklungsforschung, Umweltschutz, Projektmanagement und Anthropologie. Solche Kenntnisse qualifizieren die Absolvent*innen des NOHA-Masters für verschiedene Aufgaben.
Leonie Kothe stellt fest: „In Nichtregierungsorganisationen und auch in staatlichen Einrichtungen wie der Generaldirektion Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz der Europäischen Kommission finden sich viele Sozialwissenschaftler*innen wieder, während im praktischen Feld ganz unterschiedliche Professionen im Einsatz sind.“ Grundsätzlich sind die möglichen Wirkungsfelder der Absolvent*innen aber vielfältig und reichen von Tätigkeiten bei der EU oder bei der UN, über internationale staatliche und nichtstaatlichen Organisationen, bis hin zur Arbeit in in Verbänden, in der Verwaltung oder in der Wissenschaft.
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