Nötiger Perspektivwechsel
In der Umwelt- und Naturbildung herrschte die Meinung: Sozial benachteiligte, bildungsferne Leute sind kaum erreichbar. Eine Studie und Modellprojekte widerlegen das und zeigen, wie Fachkräfte die Gruppe erschließen können.
Text: Daniela Obermeyer
„Das Recht auf Bildung und gesellschaftliche Teilhabe gilt für alle, gerade in Zeiten immer größerer Spaltung in der Gesellschaft“, betont Thomas Kappauf vom Landesbund für Vogelschutz in Bayern e.V. (LBV). Deshalb organisiert der Diplom-Biologe und Umweltpädagoge seit Jahren speziell Angebote für Menschen mit geringem Einkommen und Bildungsgrad.
Der zweite Grund ist ebenfalls einleuchtend: Umweltschutz kann nur dann Wirkung zeigen, wenn möglichst viele Menschen etwas dafür tun. „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) lautet das übergeordnete Stichwort. Lange Zeit jedoch wurden aber gerade in der Natur- und Umweltbildung soziale Randgruppen vernachlässigt – nicht nur weil, ihnen das Geld dafür fehlt. Es wurde und wird des Öfteren unterstellt, sie hätten generell mehr Interesse an Konsum als an der Natur und einer nachhaltiger Lebensweise.
Diese Vorurteile reichen bis in die Anfänge des Umwelt- und Naturschutzes Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Ein Wendepunkt war der UN-Umweltgipfel 1992 in Rio de Janeiro. Erstmals gab es ein Konzept, das Ökonomie, Ökologie und Soziales/Kultur vernetzte. Der Bewusstseinswandel war geschafft, jedoch hakte es an der Umsetzung. Die Naturschutzpolitik in Deutschland setzt oft noch auf die gesellschaftliche Vorbildstrategie, doch das funktioniert bis heute nicht. Die Hypothese der schwierigen und desinteressierten Klientel scheint sich zu bestätigen.
Nachfrageorientiert arbeiten
Dass das aber nicht so ist, zeigt die aktuelle Studie „Perspektivwechsel: Naturpraktiken und Naturbedürfnisse sozialökonomisch benachteiligter Menschen“ des Bundesamtes für Naturschutz: 69 sozialökonomisch benachteiligte Personen unterschiedlichen Alters aus drei Großstädten wurden unter anderem befragt, welche Vorstellungen von Natur sie haben, wie ihre Bedürfnisse nach Naturerfahrungen aussehen und wie ihre Einstellung zum Naturschutz und dessen Akteurinnen und Akteuren sind.
So kam unter anderem zutage: Diese Menschen hegen eine hohe Wertschätzung für Natur und Umwelt, verwenden aber eine andere Sprache als das gängige Naturschutzfachvokabular. Zudem ist diese Gruppe sehr heterogen, was ihre Erfahrungen und Bedürfnisse angeht.
Die Studienautor*innen plädieren deshalb dafür, neue Methoden und Ansprechformen zu entwickeln. Im Vorwort der Veröffentlichung heißt es, dass der Naturschutz sich auf einen Perspektivwechsel einlassen müsse. Nur wer sich nachfrageorientiert die Sichtweisen sozialökonomisch benachteiligter Menschen aktiv zu eigen mache, könne diese überhaupt erreichen.
Dass dieses Konzept Erfolg versprechend ist, zeigt das Beispiel „Projekt Regenbogen“ der LBV-Umweltstation Lindenhof in Bayreuth. Zielgruppe der von Thomas Kappauf gestarteten Maßnahme waren die Bewohner*innen eines sozialen Brennpunktviertels in der Stadt. Das Wohnquartier wurde vor einigen Jahren von Grund auf saniert, auch unter der Prämisse, mehr soziale Begegnung zu ermöglichen.
Dafür wurde eine bessere Infrastruktur bereitgestellt, etwa für Beratungsstellen, ein Café, einen Jugendtreff und für Akteure wie den LBV, die sich dort einbringen wollten. Thomas Kappauf war bewusst, dass seine Bildungsangebote dort und nicht in der zwei Kilometer entfernten Umweltstation stattfinden mussten. Er nahm Kontakt zu vor Ort aktiven Kooperationspartnern auf, um einen Zugang zur Zielgruppe zu bekommen. Zusätzlich führte er eine Anwohnerbefragung durch, um sich ein Bild von der Situation und dem Bedarf zu machen.
Aus diesen Recherchen entwickelte sich ein Umweltaktionstag, der sich mit Spielen und Bastelangeboten zunächst an Kinder richtete. Die Aktion kam gut an, weitere Verbände und Initiativen sprangen auf. Mittlerweile hat sich daraus ein Straßenfest entwickelt mit rund 250 Gästen aus dem ganzen Landkreis statt wie anfangs vor 15 Jahren mit etwa 30 Besucher*innen aus dem Umfeld. „Aufsuchende Umweltbildung“ und „Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern“ sind also sinnvolle Strategien. Was heißt das im Detail?
Mehr Partizipation
„Um das Misstrauen in dieser Gruppe zu überwinden, braucht es bekannte Kontaktpersonen als Türöffner“, schildert Thomas Kappauf seine Erfahrungen. Er selbst knüpfte Verbindungen zur örtlichen Streetworkerin. Weitere Kooperationspartner können etwa Bildungsträger zur beruflichen Qualifizierung, Sozialverbände, kirchliche Einrichtungen oder Schulen sein. Mit deren Hilfe ist es möglich, neue Zielgruppen zu akquirieren. Es sollte jedoch klar sein: Diese Zusammenarbeit kann viel Kompromissbereitschaft erfordern – von Seiten der Partner wie der Bildungsfachleute.
„Aufsuchende Umweltbildung“ bedeutet nicht nur „vor Ort“ zu sein, sondern auch die Zielgruppe bezüglich Interessen und Wissensstand dort abzuholen, wo sie gerade steht. Dafür sind niederschwellige Angebote sinnvoll, mit denen Schritt für Schritt die Naturentfremdung überwunden wird.
Im Wohnumfeld sozial benachteiligter Menschen ist meist kaum „Grün“ zu finden und wird auch nicht vermisst, wenn der Alltag etwa von Existenzsorgen geprägt ist. Thomas Kappauf macht die Erfahrung, dass vor allem praxisnahe Mitmachaktionen ziehen. „Ernährung ist ein gutes Thema, weil es jeden betrifft. Verknüpft man das beispielsweise mit Spartipps beim Kochen, ist das auch für die Zielgruppe interessant.“
Hier wird der angesprochene Perspektivwechsel von der Angebots- auf die Nachfrageseite deutlich: Nicht die Wissensvermittlung steht im Vordergrund, sondern die Lebensrealität der angesprochenen Personen. „Der Fokus des Bildungsangebotes liegt auf etwas anderem, Natur- und Umweltschutz werden ‚untergejubelt‘“, beschreibt Thomas Kappauf.
Auf diese Art vermeidet man, dass sich die Teilnehmer*innen durch vermeintliche oder tatsächliche Fachdefizite unterlegen fühlen und sorgt für eine Begegnung auf Augenhöhe. Dass diese Methodik ein Umdenken von Seiten der Bildungsexpertinnen und -experten erfordert, liegt auf der Hand. Sie müssen den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen dem eigenen Anspruch und den Interessen der Zielgruppe finden.
Offenheit und Geduld
Laut Thomas Kappauf ist das einer der Stolpersteine für solche Projekte. „Es bedarf großer Offenheit, sich auf diese Art der Umweltbildung einzulassen.“ Wer das aber tut, interdisziplinär arbeitet, Erfahrungen in Konfliktmanagement und Methodenvielfalt, Flexibilität und Einfühlungsvermögen mitbringt, trägt einen großen Teil zum Erfolg bei.
Weitere Erfolgsfaktoren sind Ausdauer und Geduld. „Erst wenn ich eine stabile Vertrauensbasis aufgebaut habe, kann ich tiefer und fachlicher in den Umwelt- und Naturschutz einsteigen.“ Das kann mehrere Jahre dauern. Sinnvoll ist es zudem, sich um Unterstützung der Gemeinde, Stadt oder eines Wohnungsbauträgers zu bemühen, um eine geeignete Infrastruktur für die Umweltbildung zu schaffen.
Unter dem Aspekt der Kontinuität ist es problematisch, dass finanzielle Fördermittel häufig auf ein bis zwei Jahre begrenzt sind und sich meist nur auf Modellprojekte beziehen. Die Umweltministerien des Bundes oder der Länder sind dafür die richtigen Adressen, sollte man diese Unterstützung dennoch anstreben. Eine weitere Möglichkeit sind öffentliche und private Stiftungen. Da milieuspezifische Umweltbildung in der Regel defizitär ist, empfiehlt Thomas Kappauf eine Mischkalkulation: Einige etwas teurere Aktionen finanzieren andere günstigere oder kostenfreie.
Einschlägige Institutionen im Umwelt- und Naturschutz bieten weiterführende Informationen oder Studien zum Thema, schildern Best-Practice-Beispiele oder organisieren Konferenzen. Fündig wird man unter anderem beim Umweltbundesamt oder der Arbeitsgemeinschaft Natur- und Umweltbildung.
Weiterbildungen bezüglich der Zielgruppe „Einkommensschwache und bildungsferne Schichten“ gibt es meist nicht explizit, sondern diese sind im BNE-Bereich integriert. Hier haben viele Umwelt- und Naturschutzorganisationen den Bedarf erkannt und bieten Fortbildungen für ihre Mitarbeitenden oder externe Fachkräfte an.
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