Zum Schutz schweigen
Die Probleme ihrer Klient*innen müssen Sozialarbeiterinnen und Psychologen für sich behalten. Nur in seltenen Ausnahmefällen sind diese Fachkräfte dazu angehalten, ihre Schweigepflicht zu brechen.
Text: Janna Degener-Storr
Wer Menschen in schwierigen Situationen helfen möchte, muss Vertrauen zu ihnen aufbauen. Dazu gehört nicht nur, ein offenes Ohr zu haben, sondern auch, Geheimnisse für sich behalten zu können. Das ist eine moralische Verpflichtung – und auch eine rechtliche. Deshalb gibt es eine besondere Verschwiegenheitspflicht, auch Schweigepflicht genannt, die für bestimmte Berufe gilt, etwa für staatlich anerkannte Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen sowie für Psycholog*innen.
Wenn jemand sich also beispielsweise einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin einer Beratungsstelle anvertraut, kann er oder sie davon ausgehen, dass diese Informationen nicht an Dritte weitergegeben werden. Das Verbot, Privatgeheimnisse zu offenbaren, ist in Paragraph 203 des Strafgesetzbuches geregelt.
„Von der Schweigepflicht geschützt sind Informationen, die den persönlichen Lebens- und Geheimnisbereich einer Person betreffen und die dem Funktionsträger kraft Berufsausübung bekannt geworden sind. Es handelt sich dabei um einen Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“, erklärt Asma Hussain-Hämäläinen, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht.
Dabei kann es um ganz unterschiedliche Themen gehen, zum Beispiel die Finanzlage und die Lebensverhältnisse einer Person, ihre Erkrankungen und Therapien, ihre Meinungen und ihr Suchtverhalten oder auch um die Tatsache, dass sie etwas geheim halten möchte.
Gefahr abwenden
In der Praxis ist das allerdings gar nicht immer so einfach, wie es in der Theorie klingen mag. Der Sozialarbeiter Theodor Lieblich (Name von der Redaktion geändert) weiß das aus eigener Erfahrung. Er war lange in einer Justizvollzugsanstalt tätig. Zuvor hatte er mit Jugendlichen gearbeitet, die teilweise straffällig waren. Dabei hatte er gelernt, dass manche Geheimnisse eben doch offenbart werden müssen, etwa zum Schutz anderer Personen.
Der Sozialarbeiter gibt ein Beispiel: „Wenn mir ein Jugendlicher erzählt, dass seine Eltern Alkoholiker*innen sind und er darunter als Kind stark gelitten hat, muss ich das niemandem erzählen. Wenn ich aber weiß, dass er selbst viel trinkt, unter Alkoholeinfluss sehr reizbar ist, zur Gewalt neigt und die Kolleginnen und Kollegen in solchen Situationen gefährden könnte, sollte das Team darüber informiert sein. Dann könnte man beispielsweise darauf achten, Gespräche mit diesem Jugendlichen nur zu zweit durchzuführen.“
In seiner Berufsbiografie hatte Theodor Lieblich immer wieder schwierige Entscheidungen zu fällen, wenn es um Geheimnisse seiner Schützlinge ging. „Wenn mir etwa ein Jugendlicher, der der rechten Szene nahesteht, erzählt, dass er Gewaltphantasien gegenüber anderen Menschen hat und bereits übergriffig geworden ist, muss ich abwägen, ob ich diesen Fall dem Jugendamt beziehungsweise der Polizei melde, damit präventiv eingegriffen werden kann, oder ob es ausreicht, wenn ich das Thema mit dem Jugendlichen selbst aufarbeite.“
Fachkräften, die Schwierigkeiten haben, solche Situationen emotional zu verarbeiten, kann der Austausch mit Kolleg*innen, beispielsweise in einer Supervision, helfen. Im Umgang mit Jugendlichen gebe es ähnliche Diskussion auch immer wieder im Zusammenhang mit angekündigten Straftaten, erzählt Theodor Lieblich: „Wenn ein Jugendlicher mitteilt, Drogen zu konsumieren, würde ich niemals sofort die Polizei rufen – Schweigepflicht hin oder her. Denn das würde jegliche soziale Arbeit konterkarieren. Die Polizei wird in der Regel nur bei Gefahr in Verzug gerufen.“
Sich selbst absichern
Tatsächlich sind auch im Gesetz Ausnahmen vorgesehen. „Die Schweigepflicht gilt nicht gegenüber berufsmäßigen Gehilfen beziehungsweise den zur Vorbereitung auf den Beruf tätigen Personen, die zum organisatorischen internen Bereich eines Mitgliedes dieser Berufsgruppen gehören“, sagt die Rechtsexpertin Hussain-Hämäläinen. Diese seien dann wiederum zur Verschwiegenheit zu verpflichten. „Auch bei Vorliegen einer auch nur mutmaßlichen Einwilligung ist der Offenbarende befugt, diese Information an Dritte weiterzugeben.“ Ein Beispiel: Wenn ein Rettungsdienst eine bewusstlose Person vorfindet, die möglicherweise Opfer einer Straftat wurde, darf er die Polizei verständigen.
Ebenso müssen Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen die Polizei alarmieren, wenn der begründete Verdacht vorliegt, dass ein Kind misshandelt wird. Das heißt aber nicht, dass Polizist*innen ein Recht darauf haben, alles zu erfahren. Theodor Lieblich ist eher reserviert, wenn Anrufe von der Polizei kommen. Im Zweifelsfall lässt er sich die Anfrage lieber schriftlich schicken, um in Ruhe über den Sachverhalt nachdenken zu können.
Denn wer gegen die Verschwiegenheitspflicht verstößt, muss nicht nur mit einer Abmahnung und gegebenenfalls sogar einer Kündigung vom Arbeitgeber rechnen, sondern auch mit einer Geldstrafe – und im schlimmsten Fall sogar mit einer Haftstrafe von bis zu einem Jahr. Das steht aber natürlich nicht an der Tagesordnung. „Es wird wohl in der Praxis eher nicht passieren, dass ein Sozialpädagoge wegen Geheimnisverrats ins Gefängnis kommt. Vielleicht wäre das der Fall, wenn er die Biografien seiner Klient*innen unanonymisiert an die Presse weitergibt“, sagt Lieblich.
Überlegt handeln
In der Praxis verletzen gerade unerfahrenere Fachkräfte die Schweigepflicht eher mal, weil sie unter großem Druck einfach nicht daran denken. Die Psychologin Jessika Nitzschker berät am Kinderschutz-Zentrum Berlin e.V. vor allem Familien und kann sich durchaus Situationen vorstellen, in denen das passiert: „Wenn ein Vater in der Familie gewalttätig geworden ist, wird möglicherweise entschieden, dass er keine Umgänge mehr wahrnehmen darf, bevor er sich mit uns in der Beratungsstelle mit dem Thema auseinandergesetzt hat.
Dieser Vater wendet sich dann beispielsweise an das Jugendamt oder an die Kita, weil er sein Kind unbedingt wiedersehen möchte. Wenn die Fachkraft, die mit ihm Kontakt hatte, bei uns nachfragt, ob wir bereits mit dem Vater gesprochen haben, können wir leicht verleitet werden, eine Auskunft zu geben.“ Doch in solchen Situationen müssen Fachkräfte natürlich erst einmal eine Schweigepflichtsentbindung einholen.
„Die meisten wissen das natürlich eigentlich auch und erinnern sich, wenn wir das erwähnen“, erklärt Nitzschker. Manche Stellen, die eine Familie zu ihr schicken, lassen sich schon im Vorfeld dieses Dokument unterschreiben, um bei Bedarf Nachfragen stellen zu können. Das macht die Abläufe dann einfacher.
Und natürlich kommt es durchaus auch vor, dass eine Fachkraft gerne eine vertrauliche Information weitergeben möchte, aber nach einer Abwägung zu dem Schluss kommt, dass das nicht der richtige Weg ist. Jessika Nitzschker erinnert sich an einen solchen Fall: „Ich habe einmal eine Mutter betreut, die Konflikte mit dem Vater ihrer Kinder hatte. Der Vater schrieb dann eine E-Mail an sie, in der er mich und eine andere Fachkraft ins CC setzte. Mit meinem Blick auf die Situation der Mutter hätte ich die Information der anderen Fachkraft gegenüber gerne ‚richtiggestellt‘, aber dazu war ich an dieser Stelle nicht befugt“.
Vom Schweigen entbunden
Solche Schwierigkeiten hat die Psychologin allerdings eher selten. Denn ihr ist es immer wichtig, ihre Klientinnen und Klienten zu schützen, und deshalb würde sie im Normalfall nicht auf die Idee kommen, einfach deren Geheimnisse auszuplaudern. „Wenn jemand mich nach den Inhalten einer Beratung fragt, mache ich mir klar, dass ich der anderen Person nicht helfen kann, weil das meine Arbeit mit meiner Klientin oder meinem Klienten zerstören würde.“
Wenn sie merkt, dass auch ihr Klient oder ihre Klientin von einer Aussprache profitieren würde, bespricht sie zunächst mit einem Kollegen oder einer Kollegin, welches Vorgehen in dieser Situation vernünftig wäre und bittet dann gegebenenfalls um eine Schweigepflichtsentbindung. Denn wenn die Betroffenen dieses Dokument unterschreiben, wissen sie, dass ein Austausch geplant ist. Und sie wissen, dass es keine Absprache hinter ihrem Rücken gibt, die die Beziehung zu ihrer Beraterin belasten könnte.
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