Trauma im Beruf
Im Berufsleben erleben Mitarbeiter*innen und Führungskräfte emotional oder körperlich schwierige Situationen. Dadurch können auch Traumata entstehen.

Trauma im Beruf

Menschen reagieren auf vielfältige Weise auf ihre traumatischen Erfahrungen. Das kann weitreichende Folgen im Beruf haben. Was traumatisierten Berufstätigen hilft, weiß Kathrin Contzen, Trauma-Coach aus Hamburg.

Interview: Anja Schreiber  

Respekt und Verständnis der Kolleg*innen sind wichtig für Traumatisierte, weiß Kathrin Contzen. Foto: Martina van Kann

WILA Arbeitsmarkt: Heute wird oft von Traumatisierung gesprochen. Was heißt das eigentlich?
Kathrin Contzen: Traumatisierende Lebensereignisse sind schwerwiegende Erlebnisse wie zum Beispiel ein schwerer Unfall, eine Naturkatastrophe, eine lebensbedrohliche Erkrankung, der Verlust einer nahestehenden Person, aber auch körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt. Sie können sich im privaten Umfeld genauso ereignen wie im beruflichen Bereich, zum Beispiel wenn Sie bei der Arbeit körperlich angegriffen werden. Auch Zeug*innen von Gewalttaten oder Unfällen können traumatisiert werden. 


 
„Bei jeder Arbeit kann es zu Traumata kommen.“
 

 

Inwieweit kann es auch zu Traumatisierung im Beruf kommen? Gibt es jenseits von Notfallsanitäter*innen, Feuerwehrleuten oder Soldat*innen weitere potenziell traumatisierende Berufe?
Ja, natürlich können im Beruf Traumata entstehen. Gerade in Hilfeberufen, bei Sozialarbeiter*innen, Therapeut*innen und Trauma-Coaches ist auch eine sekundäre Traumatisierung möglich, weil sie in Beratungsgesprächen und Therapiesitzungen von den Traumata ihrer Klient*innen und Patient*innen erfahren. Sie hören viel Schlimmes. Aber auch bei jeder anderen Arbeit kann es zu Traumata kommen, zum Beispiel durch Arbeitsunfälle, Mobbing, Arbeitsplatzverlust oder sexuelle Belästigungen.

Verursachen nur singuläre Ereignisse ein Trauma?
Nein. Auch emotionale und körperliche Vernachlässigung in der Kindheit, die sich in der Regel über eine längere Zeit erstreckt, führt zur Traumatisierung. In diesem Fall spricht man von einem Bindungstrauma.


 
„Oft sind die Eltern selbst traumatisiert und geben die Traumatisierung an ihre Kinder weiter.“
 

 

Können Sie den Begriff Bindungstrauma noch genauer erklären?
Bindungstraumata ereignen sich in der frühen Mutter-Kind- oder Eltern-Kind-Beziehung, mitunter sogar pränatal, durch eine Vielzahl an kleinen, sehr stressigen Einzelerlebnissen des Kindes. Das geschieht auch zum Beispiel durch Alkohol- und Drogenkonsum der Mutter, kann aber auch durch Gewalt gegenüber der Mutter ausgelöst werden.

Bei einem Bindungstrauma entsteht keine positive Bindung zwischen dem Kind und den Elternteilen, das Kind erlebt keine positive Resonanz, lebt somit in großer Einsamkeit. Ursache dafür kann neben Vernachlässigung auch emotionale, körperliche oder sexuelle Gewalt sein. Oft sind die Eltern selbst traumatisiert und geben die Traumatisierung an ihre Kinder weiter. Man spricht von einer transgenerationalen Weitergabe des Traumas.


 
„Bindungstraumata mit ihren schmerzlichen Erfahrungen können sich auf das gesamte Leben auswirken und haben Konsequenzen im privaten Leben und im Beruf.“
 

 

Wissen Menschen mit Bindungstrauma von ihrer Traumatisierung?
Viele wissen es nicht. Sie halten ihre Empfindungen für normal, weil sie nichts anderes kennengelernt haben. Solche Bindungstraumata mit ihren schmerzlichen Erfahrungen können sich auf das gesamte Leben auswirken und haben Konsequenzen im privaten Leben und im Beruf. Oft isolieren sich solche Menschen, sie haben einen geringen Selbstwert und sind voller Scham. Diese Traumata werden nicht immer aufgearbeitet. Das ist bedauerlich, denn je früher eine Therapie erfolgt, desto größer ist die Chance, wieder aktiv am sozialen Leben teilnehmen zu können. Gerade die Aufarbeitung von Bindungstraumata ist ein sehr langer Prozess, oft auch lebenslang. 


 
„Problematisch wird es, wenn der Betroffene zum Beispiel seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann.“
 

 

Noch einmal zurück zu Einzelerlebnissen. Führt jedes solcher Ereignisse zu einer Traumatisierung?
Nein, die Menschen reagieren ganz unterschiedlich. Menschen, die in stabilen emotionalen Verhältnissen leben, können oft besser mit traumatischen Erlebnissen umgehen als Menschen, bei denen das nicht der Fall ist oder die bereits unter einem Bindungstrauma leiden. Manche Menschen haben nur vorübergehende Beschwerden, eine sogenannte Anpassungsstörung.

Problematisch wird es, wenn der Betroffene zum Beispiel seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann oder das Erlebte sich auf seinen Körper auswirkt. Dann spricht man von einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die von einem Psychiater oder einem Psychotherapeuten diagnostiziert wird. Ob eine Traumatisierung zu einer solchen PTBS wird, zeigt sich erst nach sechs Wochen oder später. Vorher spricht man, wie gesagt, von einer Anpassungsstörung.

Wie sehen die Symptome aus, die sich nach einer Traumatisierung einstellen können?
Betroffene berichten häufig von verschiedenen Nachwirkungen. Sie leiden zum Beispiel unter Unruhe, Angst- und Panikattacken, haben Schlafstörungen, Depressionen oder Burnout. Auch Suchtmittelmissbrauch, Reizbarkeit, verringerte Konzentrationsfähigkeit und übersteigerte Schreckreaktionen können zu den Symptomen gehören ... genauso wie stark belastende Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse. Viele Menschen werden auch körperlich krank. Das sind dann nicht nur klassische psychosomatische Krankheiten, sondern auch die unterschiedlichsten physischen Erkrankungen.


 
„Solche Schutzreaktionen führen zu Problemen, auch im beruflichen Kontext.“
 

 

Warum reagieren Betroffene so unterschiedlich?
Der Mensch hat bei überwältigenden Ereignissen und Erfahrungen, evolutionär betrachtet, vier verschiedene Möglichkeiten der Reaktion: Flucht, Angriff, Zusammenbruch oder Erstarrung. Kampf und Flucht sind wahrscheinlich die bekanntesten Stressreaktionen. Bei der Traumatisierung kommt es auch oft zu einer Schockstarre. Die Menschen fühlen sich wie betäubt. Sie sind innerlich distanziert und kippen sozusagen weg. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Form der „Dissoziation“.

Diese Reaktionen des Körpers sind Schutzmechanismen. Dazu zählen auch zum Beispiel Tagträumereien, Rückzug in die Fantasiewelt und  Misstrauen. Sie helfen ihm, mit überwältigenden Erlebnissen umzugehen. Zugleich führen solche Schutzreaktionen zu Problemen, auch im beruflichen Kontext. Denn Betroffene werden häufig sprachlos. Sie tauschen sich wenig aus und ziehen sich in die Einsamkeit zurück.

Gibt es neben diesem von Ihnen beschriebenen Rückzug noch eine andere Reaktion, die im Arbeitsalltag sichtbar wird?
Ja, diese Menschen können hyperaktiv werden. Sie zeigen häufig eine Überreaktion, die aus dem Bedürfnis entsteht, sich abzulenken, zum Beispiel mit großem Aktionismus. Im Arbeitsleben zeigen sie oft ein sehr großes Engagement, das sogar zur Überbelastung und zum Burn-out führen kann.

Die Arbeit wird oft zum Substitut, zum Ersatzobjekt. Sie nehmen auch Vieles sehr persönlich, sind extrem gestresst, innerlich unruhig und haben Konzentrationsprobleme. Gleichzeitig hilft ihnen die Arbeit, nichts zu fühlen, nicht in Kontakt mit sich zu kommen und sich nicht mit sich selbst zu beschäftigen.


 
„Auf solche Trigger können Überreaktionen wie Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit oder sogar Aggressivität folgen.“
 

 

Was macht die Berufstätigkeit für Traumatisierte noch schwierig?
Sie werden oft mit Triggern konfrontiert. Darunter versteht man äußere Reize, die an das belastende Ereignis erinnern. Die Trigger können sehr unterschiedlich sein wie der Tonfall eines Menschen aber auch ein bestimmter Geruch oder eine spezielle Farbe. Wenn eine Tür zuknallt, kann das schon ein Auslösereiz sein.

Infos und Hilfe im Netz

Auf solche Trigger können Überreaktionen wie Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit oder sogar Aggressivität folgen. Diese Übererregungssymptome erschweren oft den Alltag, privat und beruflich. Ziel von Therapien und Coaching ist es in der Regel, wieder eine Alltagstauglichkeit herzustellen. Denn nicht selten ist eine normale Berufstätigkeit nicht möglich. Außerdem sind viele Betroffene oft krank oder sogar langzeitkrank.

Wie sollten hier Führungskräfte und Kolleg*innen reagieren?
Das ist nicht einfach. Oft ist nicht klar, was diese Betroffenen haben, da die Traumata nicht sichtbar sind. Außerdem ist das Thema vonseiten der Betroffenen sehr schambesetzt. Das berufliche Umfeld hat oft das Gefühl, dass diese Menschen gar nicht krank sind. Sie bemerken vielleicht nur den sozialen Rückzug. Wichtig ist in solchen Situationen, dass Kolleg*innen und Führungskräfte offen und verständnisvoll reagieren. Sie sollten den Betroffenen das Recht auf Krankheit zugestehen und sie ernstnehmen. Wichtig ist, dass sie ihnen signalisieren: ‚Nimm Dir Zeit für Dich. Sorge für Dich.‘


 
„Hat man das Gefühl, dass jemand im Team betroffen ist, sollte man das ansprechen, indem man seine Vermutung vorsichtig äußert.“
 

 

Viele fühlen sich den Kolleg*innen gegenüber da sicher überfordert. Haben Sie für diese Menschen noch weitere Tipps?
Ja. Grundsätzlich ist es wichtig, sich als Führungskraft über das Thema Traumatisierung zu informieren und seine Mitarbeiter*innen darüber aufzuklären. Hat man das Gefühl, dass jemand im Team betroffen ist, sollte man das ansprechen, indem man seine Vermutung vorsichtig äußert. Man sollte dabei nur seine Wahrnehmungen schildern. Eine Kollegin könnte zum Beispiel beschreiben, wie sich aus ihrer Sicht der Betroffene in letzter Zeit verändert hat. Wichtig für die Teammitglieder und Vorgesetzten ist, dass sie bei sich bleiben und Ich-Botschaften senden. Auf gar keinen Fall sollten sie eine Diagnose stellen.

Was können Vorgesetzte noch für Betroffene tun?
Sie können ihnen Aufmerksamkeit geben und Respekt zollen. Wichtig ist auch, dass sie Interesse zeigen und von den Betroffenen nicht die volle Leistung erwarten. Ich weiß, dass dies für Unternehmen eine Herausforderung darstellt, weil es auch um wirtschaftliche Notwendigkeiten geht. Dennoch sollten Vorgesetzte sie unterstützen, wo immer sie können.


 
„Bei einer stark belastenden Lebenssituation geht es darum, dass die Betroffenen ihre Traumata in ihr Leben integrieren und verarbeiten können.“
 

 

Was können Traumatisierte selbst tun?
Symptome wie starke Erschöpfung, Schlaflosigkeit und Konzentrationsprobleme wahrnehmen und sich Unterstützung holen. Bei einer stark belastenden Lebenssituation geht es darum, dass die Betroffenen ihre Traumata in ihr Leben integrieren und verarbeiten können und nicht abspalten. Dabei helfen Therapeut*innen und Coachs, ohne Unterstützung ist das kaum zu bewältigen. Da viele Betroffene sich ablenken, um vergessen zu wollen und so in eine Form der Dissoziation fallen können, kann ihnen ganz praktisch eine Tagesstruktur und ein geregelter Alltag helfen. Der wirkt wie eine kleine Stütze. Ich empfehle Betroffenen, sich in akuten Situationen an Beratungsstellen oder Hilfetelefone zu wenden, das ist auf jeden Fall anonym.

Wie können Therapeut*innen und Sozialarbeiter*innen einer Traumatisierung vorbeugen?
Hilfreich ist eine regelmäßige Psychohygiene. Bevor man in belastende Situationen geht, kann man zum Beispiel mit Affirmationen oder Bildern arbeiten, die für einen selbst zum Kraftort werden. Solche Bilder und Affirmationen lassen sich erlernen. Auch ich nutze das. Außerdem sind Supervisionen ganz wichtig. Denn bei ihnen kann man über die Fälle sprechen und von seinen eigenen Empfindungen berichten, sich mit Kollegen austauschen und man fühlt sich nicht mehr so allein mit seinen Themen.

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