Fehler sind Fenster zum System
Die Schuldfrage sollte in einer guten Fehlerkultur im Unternehmen nicht an erster Stelle stehen. Stattdessen sollten sich Führungskräfte und Mitarbeitende auf die Ursachen konzertieren.

Fehler sind Fenster zum System

Fehler geben den Blick auf komplexe Zusammenhänge frei und schaffen Räume für Verbesserung. Arbeitspsychologin Ines Kohl erklärt, warum Fehler wichtig sind und wie sie Teil einer gesunden Arbeitswelt werden können.

Interview: Christine Sommer-Guist 

Ines Kohl arbeitet für die gesetzliche Unfallversicherung Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG). Foto: Jens Steingässer

WILA Arbeitsmarkt: Was versteht man unter „Fehlerkultur“?
Ines Kohl: Der Begriff Fehlerkultur bezeichnet, wie Organisationen mit Fehlern, deren Ursachen und Folgen umgehen. Dabei meint Fehlerkultur eher einen offenen und damit positiven Umgang mit Fehlern – ganz im Gegensatz zu einer Schuldkultur. Bei einer Fehlerkultur soll aus Fehlern gelernt werden. Sie dienen als Fenster zum Arbeitssystem und geben einen Blick auf komplexe Zusammenhänge frei. Es geht nicht um eine handelnde Person, sondern um das Zusammenwirken verschiedener Personen und Systeme.

Eine Fehlerkultur bedeutet aber nicht, Fehler zu „bejubeln“! Denn Fehler zu wiederholen, verhindert, daraus zu lernen. Fehler haben und brauchen Konsequenzen, vor allem, wenn sie Schaden verursachen. Nur so kann ein Team daraus eine lösungsorientierte Kultur entwickeln. In der Praxis lässt sich oft beobachten, dass Unternehmen einen offenen, manchmal nachlässigen oder verzeihenden Umgang mit Fehlern praktizieren, solange nichts Gravierendes geschieht. Nach einem schwereren Ereignis werden dann aber plötzlich „andere Saiten“ aufgezogen. Beschäftigte erleben solche Umschwünge als Willkür. In der Folge werden sie sich zurückhalten, über Fehler zu berichten. Das jedoch schadet der Leistungsfähigkeit aller. 


 
„Fehler geschehen unbeabsichtigt und ihre Auswirkungen offenbaren, dass wir unser Ziel nicht erreicht haben.“
 

 

Warum haben Menschen Angst, Fehler zu machen und diese zuzugeben?
Fehler sind Abweichungen von einem gewünschten Handlungsziel. Sie geschehen unbeabsichtigt und ihre Auswirkungen offenbaren, dass wir unser Ziel nicht erreicht haben. Dabei wollen wir unsere Arbeit gut machen. Außerdem lernen wir alle früh, dass Fehler sanktioniert werden – zum Beispiel durch Noten in der Schule. Daraus entwickeln sich Ängste und wir assoziieren Fehler negativ.

Selbst wenn wir eigene Fehler erkennen, fühlen wir uns oft schlecht – wir ärgern uns, fühlen uns schuldig, weil wir andere verletzt haben und werden traurig. Das kann bis zu Zweifeln an der eigenen Kompetenz führen. All diese Gefühle sind aber ein gutes Zeichen! Denn sie bedeuten, dass wir im Prinzip alles richtig machen wollen und uns eingestanden haben, dass es nicht wie erwartet verlaufen ist. Wir antizipieren die Folgen unseres Handelns und können so unser Verhalten und den Umgang mit Fehlern bei uns selbst und anderen verändern.

Gibt es also gute Fehler? Durch Fehler wird man klug?
Menschen lernen durch Erfahrungen. Eigene Fehler oder Fehler anderer sind ideale Lernmöglichkeiten, denn wir hinterfragen, wie es dazu gekommen ist und fragen uns, was würde ich beim nächsten Mal anders machen? So gehen jeder neuen Erfindung mehrere Fehlversuche voraus. Ich würde sogar sagen: Kreativität braucht Fehlerfreundlichkeit. 


 
„In Schuldkulturen lernen Beschäftigte, dass es besser ist, Fehler zu vertuschen. Sie entwickeln Ängste, sind kaum noch bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sturer Dienst nach Vorschrift ist dann an der Tagesordnung.“
 

 

Welche Fehlerkulturen gibt es und welche Folgen haben sie?
Die Fehlerkultur ist in Unternehmen und auch manchmal innerhalb eines Unternehmens ganz unterschiedlich ausgeprägt. Eine negative Fehlerkultur erkennt man daran, dass bei Ereignissen schnell die Frage auftaucht: „Wer war´s?“ Es wird sich darauf konzentriert, die Schuldigen zu finden. Das sind oft diejenigen, die zuletzt gehandelt, also einen aktiven Fehler begangen haben. So eine „Schuldkultur“ besteht im Kreislauf aus Benennen (du warst das), Beschuldigen (du trägst die Verantwortung für den Schlamassel) und Beschämen (du bekommst eine öffentliche Abmahnung). Dadurch werden die eigentlichen Ursachen, die dem aktiven Fehler vorausgehen, nicht erkannt, und es können keine adäquaten Lösungen entwickelt werden. 

In Schuldkulturen lernen Beschäftigte, dass es besser ist, Fehler zu vertuschen. Sie entwickeln Ängste, sind kaum noch bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sturer Dienst nach Vorschrift ist dann an der Tagesordnung – Mitdenken ist außen vor. Das führt zu einer regelrechten Abwärtsspirale: auf Angst und Verunsicherung folgt Verdrängung und Verantwortungsverlust. Das Lernen aus Fehlern wird so unmöglich, wobei gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung von Fehlern steigt.


 
„Der einzelne Fehler ist damit nur das Fenster zum System und gibt den Blick frei auf systemische Zusammenhänge im Unternehmen.“
 

 

Wie sieht es dagegen bei einer positiven Fehlerkultur aus?
In einer positiven Fehlerkultur versucht man, einen systemischen Blick auf Fehlerursachen zu entwickeln. Hier werden die Bedingungen, die dem Handlungsfehler vorausgegangen sind, systematisch hinterfragt und analysiert. Darin liegt die Chance, aus Fehlern zu lernen. Der einzelne Fehler ist damit nur das Fenster zum System und gibt den Blick frei auf systemische Zusammenhänge im Unternehmen. 

In einer positiven Fehlerkultur braucht es darüber hinaus ein Situationsbewusstsein. Das heißt, dass man sich selbst bewusst ist, dass kein Mensch frei von Fehlern ist. Und das klingt oft einfacher, als es ist. Hören wir von Fehlern anderer, kommt bei uns schnell der Gedanke: „Mir kann das nicht passieren. Ich bin doch nicht so blöd.“

Diese Haltung spiegelt sich im Verhalten wider – und sei es durch Körpersprache. Ob dann Menschen beim nächsten Mal wieder offen über einen Fehler sprechen werden, ist fraglich. Unternehmen müssen es schaffen, für Fehler zu sensibilisieren und „betroffen zu machen“. Sie müssen an der Realität der Menschen andocken, damit diese feststellen: „Mist, das hätte auch mir passieren können.“ 

Noch tiefer einsteigen:

Wie wichtig ist eine offene Fehlerkultur für Unternehmen, für die Wirtschaft allgemein?
Es ist nachgewiesen, dass eine angstfreie Unternehmenskultur, ein gutes soziales Miteinander, Beschäftigte länger gesund hält. Sie ist die wichtigste Ressource für Belastungsfaktoren, die nicht so einfach zu verändern sind. Wenn zum Beispiel ein großer Kunde wegbricht oder neue Gesetzgebungen die Marktfähigkeit beeinflussen, können sich die Beschäftigten aufeinander verlassen, stehen zusammen und packen gemeinsam an. 

Stress hingegen ist langfristig eher schädlich für Beschäftigte und das Unternehmen. Unter Stress entstehen mehr Fehler, und Beschäftigte haben weniger gedankliche Kapazitäten, sich mit diesen Fehlern auseinanderzusetzen. Außerdem wird unter Stress die Leistungsfähigkeit nur kurz gesteigert – ein langfristig hoher Stresspegel macht krank und lässt Menschen weniger kreativ werden. 


 
„Menschen beobachten genau, wie andere auf ihr Verhalten reagieren, was erwünscht ist und was eher nicht, und passen sich daran an.“
 

 

Wie lässt sich eine offene Fehlerkultur etablieren und steuern?
Eine Kultur lässt sich nicht verordnen, sie ist ein Prozess, der immer stattfindet. Menschen beobachten genau, wie andere auf ihr Verhalten reagieren, was erwünscht ist und was eher nicht, und passen sich daran an. Unternehmenskultur kann man als drei Ebenen eines Eisbergs betrachten: Die untere mit unseren Werten und Moralvorstellungen liegt unter der Wasseroberfläche und prägt unser Verhalten. Ich kann sie von oben, von außen nicht verändern. Ich kann niemandem sagen: „Jetzt muss dir dieser Wert wichtig sein“. Außerdem ist uns diese Ebene oft gar nicht bewusst. Daher müssen wir auf der mittleren oder oberen Ebene ansetzen, um Kultur zu verändern.

Die mittlere Ebene beschreibt normative Aspekte: Welche Spielregeln gibt es im Unternehmen? Welche Verhaltensmuster, Strukturen und Strategien? Auch diese sind nicht immer bewusst sichtbar, können es aber werden, indem man darüber spricht und sie reflektiert. Es ist wichtig regelmäßig und gemeinsam zu schauen: Wo stehen wir? 

Ein weiterer Ansatzpunkt ist die oberste, sichtbare Ebene, die Spitze des Eisbergs: das beobachtbare Verhalten, die Kennzahlen, offiziellen Leitsätze und so weiter – wozu auch das Fehlermanagement gehört. All diese Ansatzpunkte formen natürlich auch die unterste Ebene des Eisbergs, sind aber nicht direkt steuerbar. Also braucht es einen langen Atem und immer wieder Reflexion, welche Veränderungen stattgefunden haben und wie die Reise weitergeht.  

Wie geht man damit um, wenn Führungskräfte Fehler machen und nicht zugeben?
Aufgrund des Machtgefälles ist dies schwer zu beantworten. Grundlegend sollte man davon ausgehen, dass Fehler nicht absichtlich passieren. In einer offenen Fehlerkultur ist dies allen bewusst und kann gut angesprochen werden. Ist dies nicht der Fall, können sich Beschäftigte mit konkreten Anliegen an Ansprechpersonen im Betrieb wenden. Je nach Anlass kann das der Betriebsrat sein, die Personalabteilung, die Fachkraft für Arbeitssicherheit oder andere.

Wichtig ist, dass gemeinsam mit der Führungskraft die Gründe des Handelns wertfrei erörtert werden: War es ein Versehen? War es eine Fehlentscheidung aufgrund unzureichender Informationen? Oder war es eine intendierte Handlung? Auf dieser Grundlage können im Unternehmen Maßnahmen zum Umgang mit dieser Fehlhandlung vorgenommen werden.

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