Ein zweites Standbein
Berufstätige können mit einer Teilselbstständigkeit die Sicherheit einer Festanstellung mit Unternehmergeist verbinden. Aber Sidepreneur*innen müssen auch auf einen erheblichen Teil ihrer Freizeit verzichten.
Text: Anja Schreiber
Eine Selbstständigkeit hat für manche Arbeitnehmer*innen eine große Anziehungskraft. Sie verspricht ein selbstbestimmtes Arbeiten ohne Anweisungen von Vorgesetzten. Allerdings schrecken viele vor dem unternehmerischen Risiko zurück. Schließlich ist es keineswegs sicher, dass sich eine Geschäftsidee wirklich durchsetzt und man ausreichend Kund*innen gewinnen kann, um davon leben zu können. Eine Alternative zu diesem „Entweder-Oder“-Modell ist das „Sowohl-als-auch“-Vorgehen der Teilselbstständigen. Denn diese Berufstätigen sind einerseits angestellt, verdienen anderseits aber auch Geld durch ihre nebenberufliche Selbstständigkeit.
Dieses Modell vereint die Vorteile aus beiden Welten und bringt gleich doppelte Sicherheit: Durch den Hauptberuf lassen sich alle notwendigen Lebenshaltungskosten, etwa für Miete, Lebensmittel, Mobilität und Energie bestreiten; hierüber laufen auch die Krankenkassenbeiträge. Das finanzielle Risiko ist deshalb hier viel geringer als bei jemandem, der einzig und allein auf die Selbstständigkeit setzt. Gleichzeitig ist für erfolgreiche Sidepreneur*innen auch der Jobverlust im Hauptberuf weniger gravierend, weil sie sich ein zweites Standbein aufgebaut haben. Zugleich können sie aber auch die Vorteile genießen, von denen hauptberufliche Unternehmer*innen profitieren. So haben sie im Rahmen ihrer Selbstständigkeit die Chance, sich ihre Zeit frei einzuteilen und ihre Aufgaben selbstbestimmt zu erledigen. Sie sind selbst die Chef*innen und müssen niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen. Sie können Geschäftsideen entwickeln und ausprobieren.
Voraussetzung: Lernbereitschaft
Durch die Selbstständigkeit erweitern Sidepreneur*innen automatisch ihre Kompetenzen, denn sie müssen sich in Themen wie Marketing, Social Media oder BWL einarbeiten, auch wenn diese Themen in ihrem bisherigen Berufsleben keine oder keine wesentliche Rolle spielten. Lernen ist also ein wesentlicher Teil des Unternehmertums. Es ist eine unbedingte Voraussetzung für eine erfolgreiche Selbstständigkeit.
Das kann auch die studierte Rechtspflegerin Anne Schmidt aus Bielefeld bestätigen. Die Beamtin hat sich im vergangenen Jahr nebenher als Coach und Prozessbegleiterin selbstständig gemacht. „Plötzlich musste ich mich mit ganz neuen Themen wie dem Marketing und der Entwicklung von Produkten beschäftigen“, berichtet die 39-Jährige. So hat sie sich zum Beispiel selbst mit dem Aufbau ihrer Website befasst. „Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als die Homepage online ging.“
Die Beamtin betont, dass sie viel dazu gelernt habe: „Als Selbstständige bin ich für alles selbst verantwortlich, zum Beispiel für die Inhalte meiner Website. Ich muss dafür einstehen. Das ist ein krasses Gefühl, was ich in meinem Beruf so ausgeprägt nicht kenne“. Denn als Beamtin sei das anders: „Im öffentlichen Dienst ist alles für einen durch Gesetze und Verordnungen geregelt, und man hat einen klar begrenzten Kompetenzbereich und kann sich darin sicher bewegen.“ Diesen anderen Blick auf das Berufsleben möchte die Rechtspflegerin heute nicht mehr missen.
Beamtin und Coach
Anne Schmidt schloss ihr duales Studium zur Rechtspflegerin an der Fachhochschule Hildesheim ab und arbeitete danach an einem Amtsgericht, an dem sie zum Beispiel Erbscheine ausstellte und gesetzliche Betreuer*innen überwachte. Nach einigen Jahren übernahm sie die Geschäftsleitung des Amtsgerichts im niedersächsischen Stolzenau. „Dort übertrug man mir das erste Mal Personalverantwortung.“
Auch in ihren weiteren Positionen am Oberlandesgericht Celle und Oberlandesgericht Braunschweig hatte sie als stellvertretende Geschäftsleiterin und Geschäftsstellenleiterin Führungsaufgaben. Sie reflektierte zeitgleich intensiv auch über ihre eigene Rolle bei der Führung der Mitarbeiter*innen. „Mein Wunsch war es zunehmend, für die Beschäftigten nicht Lösungen zu vorzugeben, sondern diese in ihrer Eigenverantwortung zu stärken, damit sie selbst Lösungen für ihre Probleme finden.“ So entschied sie sich für eine Weiterbildung: „Von 2018 bis 2019 absolvierte ich eine Coachingausbildung beim Institut Gesunde Karriere.“
Es war diese Weiterbildung, die Anne Schmidt auf die Idee brachte, sich nebenberuflich selbstständig zu machen. Inzwischen ist sie in das niedersächsische Justizministerium gewechselt und befasst sich nun als Sachbearbeiterin mit dem Thema Digitalisierung. „Aktuell bin ich zwar keine Führungskraft mehr, kann aber jetzt mein Wissen und meine Erfahrungen als Personalverantwortliche in meine Selbstständigkeit einbringen“, erklärt Schmidt. Auch ihr juristisches Fachwissen kommt der Selbstständigen zugute, wenn es zum Beispiel um Datenschutzfragen geht.
Den Schritt in die nebenberufliche Selbstständigkeit empfand die Beamtin allerdings als sehr herausfordernd: „Ich weiß noch, wie angespannt ich war, als ich meiner Führungskraft den Wunsch nach einer nebenberuflichen Tätigkeit mitteilte. Das war eine riesige Hemmschwelle, auch wenn sie gut darauf reagiert hat.“
Ohne Druck die Selbstständigkeit aufbauen
Unproblematisch ist für die Beamtin dagegen die zeitliche Organisation. Nach dem Vollzeitjob widmet sie sich ihrer Selbstständigkeit: „Ich nehme mir freitags Zeit für mein Business. Dort finden dann die Online-Coachings statt, oder ich arbeite an Marketingmaßnahmen ... zum Beispiel an meinem Instagram-Account.“ Belastend findet Anne Schmidt die zusätzliche Arbeit nicht. „Das Gute als Sidepreneurin ist, dass ich nicht unter Druck stehe. Ich muss kein zusätzliches Geld verdienen und bin nicht darauf angewiesen, wie viel Kund*innen zu mir kommen. So kann ich in meinem eigenen Tempo das Geschäft aufbauen und mich ausprobieren.“
Die Diplom-Rechtspflegerin hat schon jetzt vielfach von ihrer Nebenberuflichkeit profitiert, und das nicht nur fachlich, sondern auch in Sachen Mindset: „Ich habe erkannt, dass Perfektionismus einen nicht weiterbringt. Mein Motto ist nun: ‚Better done than perfect‘. Gleichzeitig stelle ich fest, dass Mut aus Mut entsteht.“ Selbst wenn Anne Schmidt langfristig nicht finanziell erfolgreich sein sollte, sieht sie darin kein Problem: „Ich riskiere nicht viel. Im schlimmsten Fall habe ich ein bisschen Geld versenkt.“
Auf Kosten der Freizeit
So wie Anne Schmidt geht es vielen Teilselbstständigen. Sie arbeiten vor oder nach dem Hauptjob und am Wochenende. Das bedeutet natürlich weniger Freizeit. Je nach privater Situation kann das leicht verkraftbar oder sehr herausfordernd sein. Deshalb ist die Rückendeckung des Partners oder der Partnerin, der Familie und des Freundeskreises wichtig.
Genauso entscheidend sind aber auch persönliche Eigenschaften wie etwa Ausdauer, (Selbst-)Disziplin, Leidenschaft und Motivation. Arbeitnehmer*innen, die sich nebenher selbstständig machen wollen, sollte zudem klar sein, dass sie nicht mit schnellen Ergebnissen rechnen können. Schließlich widmen sie sich nicht ausschließlich ihrer Geschäftsgründung. Dadurch wird die Kund*innenakquise und der Aufbau eines unternehmerischen Netzwerks entsprechend länger dauern. Umso wichtiger ist ein gutes Zeitmanagement. Deswegen sollten sich Sidepreneur*innen bestimmte Zeiten in der Woche für ihr nebenberufliches Business reservieren.
Selbst wenn man nur in Teilzeit unternehmerisch tätig ist, darf man keine Abstriche an der Professionalität machen. Auch Rechtsnormen sollten Teilselbstständige unbedingt einhalten. Deshalb ist es äußerst wichtig, dass sie sich über alle anstehenden rechtlichen und geschäftlichen Aspekte informieren wie etwa Steuern, Versicherungen, Marketing und Buchführung. Dafür können sie zum Beispiel die Beratungsangebote der Industrie- und Handelskammern und andere Gründungsberatungen nutzen.
Da viele Sidepreneur*innen Einzelkämpfer*innen sind, sollten sie Kontakt zu Gleichgesinnten suchen und pflegen. Das kann durch professionelle (Online-)Netzwerke geschehen wie zum Beispiel Berufsverbände, Branchentreffen oder Stammtische für Gründer*innen. Auch Weiterbildungsveranstaltungen sind eine Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu treten. Auch wenn in Zeiten von Corona der unmittelbare Austausch und Kontakt oft wegfällt, ist es für Sidepreneur*innen umso wichtiger, die zur Verfügung stehenden Online-Formate zu nutzen.
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