„Ihr braucht die Soziologie“
Soziolog*innen können in vielen Bereichen arbeiten wie beispielsweise in der Verwaltung, bei der Polizei sowie in der Unternehmensberatung.

„Ihr braucht die Soziologie“

Nach dem Soziologiestudium ab in die Forschung? Der Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen (BDS) zeigt Absolvent*innen, wie wichtig ihr Know-how auch für die Praxis ist – und wie sie Arbeitgeber davon überzeugen.

Interview: Nicole Kretschmer

Dr. Carsten Stark ist Professor an der Hochschule Hof und engagiert sich seit Jahren ehrenamtlich im BDS. Foto: privat

WILA Arbeitsmarkt: Die Soziologie und der Arbeitsmarkt – welche Herausforderungen sehen Sie in diesem Bereich?
Dr. Carsten Stark: Ein Thema, das wir als Berufsverband, seit wir uns gegründet haben, diskutieren, ist die berufsqualifizierte Ausbildung an den Universitäten. Die Soziologie dort ist oft rein forschungsorientiert, und die Professorinnen und Professoren ziehen sich ihren Nachwuchs heran, indem sie die Fächer anbieten, die für die Forschung relevant sind. Aber eine berufsorientierte Ausbildung für den Arbeitsmarkt findet weniger statt. Das wird dann versucht, über Praktika oder Nebenfächer wie BWL oder Jura reinzuholen, was aber nicht wirklich funktioniert.


 
„Wir sehen bei denen, die dann mit Soziologie in den Beruf starten, dass sie erstmal alles Mögliche machen, um über die Runden zu kommen.“
 

 

Wie äußert sich das Problem in der Praxis?
Wir machen die Erfahrung, dass viele Studierende abbrechen. Ich befürchte, das liegt nicht daran, dass das Studium zu schwer ist, sondern dass die Studierenden sich ernsthaft Sorgen um ihre Zukunft machen. Diese Angst ist aber unbegründet. Das Problem ist vielmehr, dass die meisten Studierenden nicht wissen, was sie mit dem Abschluss anfangen können.

Dieser Text ist Teil der Serie "Gemeinsam stark im Verband", die zurzeit im WILA Arbeitsmarkt erscheint. 

Darüber hinaus sehen wir bei denen, die dann mit Soziologie in den Beruf starten, dass sie erstmal alles Mögliche machen, um über die Runden zu kommen. Sie planen aber nicht gezielt ihre Karriere und überlassen sie dem Zufall. Wir als Berufsverband empfehlen, sich frühzeitig mit der Karriereplanung zu beschäftigen. Sobald jemand weiß, was ihn oder sie interessiert, kann man schon gezielt die Unternehmen, Organisationen und Institutionen ansprechen, die das Feld beackern.

Da helfen natürlich auch die Kontakte innerhalb des BDS, denn hier kann man unkompliziert mal nach einem Praktikum fragen, oder in Erfahrung bringen, wie die Chancen auf einen Job bei einem bestimmten Arbeitgeber stehen. Wir wissen, was all unsere Mitglieder machen. Die aktuelle Station und der Werdegang werden gezielt im Mitgliedsantrag abgefragt, und wir fragen auch später regelmäßig nach. 


 
„Es ist tatsächlich so, dass Soziolog*innen fast überall tätig sein können, nur steht es nicht drauf wie bei anderen Abschlüssen.“
 

 

Soziologinnen und Sozilogen können ja in vielen Berufsfeldern anpacken: In welchen Bereichen arbeiten Ihre Mitglieder?
In der öffentlichen Wahrnehmung arbeiten die meisten Soziologinnen und Soziologen an den Universitäten. Das ist aber nicht der Fall, denn die allermeisten sind auf dem außeruniversitären Arbeitsmarkt unterwegs. Unsere Mitglieder sind in der Verwaltung, bei der Polizei sowie in der Unternehmensberatung tätig oder leiten zum Beispiel Krankenhäuser als Geschäftsführer*innen.

Darüber hinaus gibt es welche, die in der Personalentwicklung arbeiten oder sogar selbstständig sind. Es ist tatsächlich so, dass Soziolog*innen fast überall tätig sein können, nur steht es nicht drauf wie bei anderen Abschlüssen. 

Welche Themen sind im Verband gerade präsent?
Inhaltlich sind unsere Mitglieder aktuell vor allem mit Themen zur Digitalisierung beschäftigt, weil das in der Praxis fast überall von Bedeutung ist: Verwaltungen organisieren sich jetzt digital, Unternehmen machen Organisation 4.0, und neue Workflows werden eingeführt. Ausgeführt wird das durch Programmierer und Informatikerinnen. Mitgedacht werden muss jedoch auch, dass Menschen damit arbeiten müssen.

Das ist ein starkes Beschäftigungsfeld von Soziologinnen und Soziologen. Denn zu gewährleisten, dass Neueinführungen auch funktionieren und Wünsche und Sorgen von Mitarbeitenden zu berücksichtigen, ist wichtig. Nicht alles, was technisch umsetzbar ist, ist auch das, was die Menschen brauchen oder wollen. Ich denke, dass das durch Corona noch verstärkt worden ist beziehungsweise weiter verstärkt wird.

Nehmen wir als Beispiel die Kommunikation über Konferenzsysteme: Vor einem halben Jahr hätten wir dieses Interview nicht per Videochat geführt – hier überwiegen für uns nun die Vorteile. In Unternehmen oder auch in Lehrveranstaltungen, wie ich es jetzt an der Hochschule mitbekomme, überwiegen oft eher die Nachteile, weil der persönliche Kontakt fast vollkommen verloren geht.


 
„Die Soziologie muss sich in Deutschland schon immer selbst ins Spiel bringen und sichtbar machen, damit sie überhaupt wahrgenommen wird.“
 

 

Ist die Digitalisierung nun ein Thema, was die Soziologinnen und Soziologen in der Praxis für sich vereinnahmen?
Vereinnahmen ist hier der falsche Begriff, denn das ist das, was leider nie passiert. Die Soziologie muss sich in Deutschland schon immer selbst ins Spiel bringen und sichtbar machen, damit sie überhaupt wahrgenommen wird. Ein schönes Beispiel ist hier die Corona-Pandemie. Die Bundesregierung wird von Mediziner*innen und Jurist*innen beraten. Dabei werden einige Fragen kaum beachtet, beispielsweise wie die Maßnahmen bei der Bevölkerung ankommen oder wie die Menschen die Maßnahmen überhaupt umsetzen können und wollen. Das sind klassische Themen der Sozialwissenschaften.

Jetzt müssten wir eigentlich hingehen und sagen: „Ihr braucht auch die Soziologie, weil es auch eine soziale Komponente gibt, die mitgedacht werden muss.“ Es ist eben nicht nur ein medizinisches oder ein juristisches Problem. Ebenso ist es bei der Digitalisierung: Hier sitzen dann oft ausschließlich Betriebswirt*innen und Informatiker*innen zusammen. 

Das Phänomen spiegelt sich auch in der Jobsuche wider, denn Arbeitsgeber wissen oft auch nicht, was sie mit dem Abschluss Soziologie anfangen sollen. Was würden Sie Berufseinsteiger*innen in diesem Fall raten?
Ich würde ihnen raten, erstmal Mitglied zu werden! Wenn schon in der gesamten Gesellschaft nicht präsent ist, dass die soziologische Sichtweise auf derartige Probleme wichtig ist, wie soll das dann eine Absolventin oder ein Absolvent allein dem Arbeitgeber vermitteln. Deswegen ist ein Berufsverband in so einem Fach besonders wichtig.

Wir machen zum Beispiel Bewerbungsberatung für die Absolventinnen und Absolventen, damit sie wissen, welche Argumente auf dem Arbeitsmarkt überzeugen. Außerdem ist es wichtig, ihnen bewusst zu machen, welche Fähigkeiten der außeruniversitäre Arbeitsmarkt verlangt und dass man sich vernetzten muss. Dafür haben wir beispielsweise ein Mentor*innen-programm.  


 
„Ziel ist, die Erfahrung, die viele in den letzten Jahren oder Jahrzehnten gemacht haben, weiterzugeben.“
 

 

Wie läuft das genau ab und welche Unterstützung gibt es noch für die Jobsuche? 
Wenn jemand von den jungen Leuten zu uns kommt, dann suchen wir ein älteres Mitglied aus, das als Mentor oder Mentorin demjenigen oder derjenigen zur Seite steht. Ziel ist, die Erfahrung, die viele in den letzten Jahren oder Jahrzehnten gemacht haben, weiterzugeben.

Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen e.V. (BDS)
Den BDS gibt es seit 1976 und er besteht aus circa 400 Mitgliedern. Sie profitieren von:
  • Workshops und Tagungen 
  • fachlichem und regionalem Austausch in den Netzwerkgruppen
  • spezifische Angeboten für die Jobsuche: Workshops zur Berufsorientierung, Vernetzungsangebote sowie Unterstützung bei der Praktikumssuche 
  • Erfahrungen anderer Mitglieder durch ein Mentor*innenprogramm
  • aktuellen Informationen aus der Fachzeitschrift „Soziologie heute“ (Abonnement ist im Mitgliedsbeitrag enthalten)
Kosten:
  • Jahresbeitrag für ordentliche Mitglieder: 90 Euro
  • Beitrag für Studierende oder für vorübergehend erwerbsgeminderte oder einkommenslose Mitglieder: 45 Euro
  • Webseite: www.soziologie-deutschland.net

Dazu zählen zum Beispiel Hinweise, bei wem man mal anfragen kann oder was im Vorstellungsgespräch verlangt wird. Darüber hinaus biete ich auch eine Sprechstunde für Studierende zur Berufsorientierung an. Und dann gibt es im Verband auch sogenannte fachliche Netzwerke.

Welche Vorteile bieten diese Netzwerke?
Wenn sich jemand beispielsweise für das Thema Umwelt interessiert, kann er oder sie sich in dem fachlichen Netzwerk mit Mitgliedern unterhalten, die das Thema praktisch bearbeiten: Es geht dabei nicht um die wissenschaftliche Sichtweise, sondern beispielsweise darum, wie das Arbeitsfeld für Soziologinnen und Soziologen zu einem bestimmten Thema in der Praxis aussieht.

Die fachlichen Netzwerke sind in ganz Deutschland verteilt und beschäftigen sich mit unterschiedlichen Themen wie Polizei und Sicherheit, Digitalisierung, Akkreditierung, Soziale Medien oder auch Nachhaltigkeit in der Gesellschaft. Die Mitglieder treffen sich dann häufig auf Tagungen oder mittlerweile auch online.

Es gibt aber auch regionale Treffen. Diese sind wiederum dazu da, dass sich die Mitglieder auch mal vor Ort treffen, sich austauschen und sich untereinander vernetzen können. Sie treffen sich dann alle zwei oder drei Monate beispielsweise in einer Kneipe oder organisieren einen Vortragsabend. 


 
„Aus der Perspektive der Soziologie ist man halt nach einer gewissen Zeit im Job ein echter Einzelkämpfer oder eine Einzelkämpferin.“
 

 

Welche Netzwerke sind wichtiger für die Mitglieder?
Tatsächlich sind die regionalen Netzwerke fast wichtiger als die fachlichen, wenn auch der fachliche Austausch zu bestimmten Themen sehr spannend ist. Aus der Perspektive der Soziologie ist man halt nach einer gewissen Zeit im Job ein echter Einzelkämpfer oder eine Einzelkämpferin.

Ich war zum Beispiel jahrelang in meiner Organisation, in der ich tätig war, der einzige Soziologe, und da freut man sich nach einigen Jahren einfach, wenn man sich mal mit anderen Soziolog*innen auszutauschen kann. Das war für mich persönlich auch der Grund beim BDS mitzumachen, weil ich diesen Austausch sehr angenehm finde und sehr schätze.  

Wer kann im Verband Mitglied werden? 
Die Bezeichnung des Studienfachs ist nicht entscheidend. Das wäre zu einschränkend, denn die Bachelor- und Masterfächer haben das sehr ausdifferenziert. Wir im Berufsverband gehen mehr vom Selbstverständnis aus: Wer sich als Sozialwissenschaftler*in, Soziolog*in fühlt, kann bei uns mitmachen. Wir haben zum Beispiel auch Sozialwirte, die eher betriebswirtschaftlich orientiert sind, aber auch die klassischen Sozialwissenschaftler*innen oder diejenigen, die Soziologie nur im Nebenfach belegt haben.

Wir haben aber auch viele Teilnehmende, die gar nicht Mitglied sind. Die kommen dann zum Beispiel einfach ab und zu zu den Regionaltreffen oder sind bei den Tagungen dabei. Bei uns kann man also auch einfach vorbeischauen. Wir freuen uns natürlich, wenn jemand Mitglied wird, wir zwingen aber niemanden dazu.

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