Medizin: Wenn das Soziale unter die Haut geht
Ob Augenzeugenberichte oder Sterbeurkunden: Der Blick in die Vergangenheit kann auch bei aktuellen Herausforderungen wie der Corona-Pandemie nützliche Daten hervorbringen.

Medizin: Wenn das Soziale unter die Haut geht

Gefragter denn je sind derzeit Fachkräfte der Medizingeschichte und Medizinsoziologie. Sie beschäftigen sich mit Pandemien, Krankheit und Tod – auch ohne ärztliche Approbation.

Text: Stefanie Schweizer

Wie ist man eigentlich vor Corona mit Seuchen umgegangen? Und welche Muster und Parallelen finden sich in der aktuellen Pandemie im Vergleich zu beispielsweise der Pest wieder? Diese und ähnliche Fragen bekommt Prof. Dr. med. Karl-Heinz Leven gerade häufiger gestellt, denn die Coronapandemie rückt das Fachgebiet des Medizinhistorikers in den medialen Fokus.

„Für Historiker ist die Geschichte ein Erfahrungsfeld für gesellschaftliche Reaktionen auf Krisen, vielfältig und oft problematisch. Ich habe die Möglichkeit, die Aktualität von Geschichte aufzuzeigen. Und das macht die Sache besonders spannend und motiviert mich in meiner Arbeit“, erklärt Leven. Indem die Medizingeschichte grundsätzliche Strukturen, Handlungsweisen und Theorien des medizinischen Tätigkeitsfelds hinterfragt, fördert sie auch eine systematische Selbstreflexion in beispielsweise der Medizin selbst.

Dazu nutzen Medizinhistoriker*innen vorwiegend geisteswissenschaftliche Arbeitsweisen. So auch Karl-Heinz Leven, der nach dem Physikum auf seine Leidenschaft für die Geisteswissenschaften stieß und sich für ein Parallelstudium entschied. „Nach der Approbation als Arzt und der Promotion zum Dr. med. schloss ich auch das Studium der Geschichte und klassischen Philologie ab. Anschließend war ich beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt tätig. So kam ich in die Medizingeschichte als akademischem Fach“, fasst Leven zusammen.

Nach der Habilitation und einer 20-jährigen Tätigkeit im Hochschulbetrieb in verschiedenen Positionen leitet er seit 2009 das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. „Medizinhistoriker thematisieren Fragen, die in jeder Medizin, zu jeder Zeit und in jeder Kultur auftreten. Das sind beispielsweise der gesellschaftliche Umgang mit Krankheiten, chronisch und psychisch Kranken, mit Alter und Tod. Es geht auch um die Arzt-Patient-Begegnung und die Genderproblematik in der medizinischen Ausbildung und Praxis“, erklärt Leven.

Eine grundsätzliche Frage der Medizinhistorik ist, wie die Naturwissenschaften in Bezug auf Fragen des menschlichen Lebens und der Gesundheit in der Moderne eine umfassende Deutungsmacht erlangen konnten. Denn gerade jetzt in der Pandemie-Krise wird beim Verhältnis zwischen Arzt oder Ärztin und Patient*in deutlich, wie wichtig das Zwischenmenschliche sein kann, wenn sonstige Kontaktformen für beispielsweise stationäre Patient*innen nicht möglich sind. 

Geisteswissenschaft trifft Medizin

Auch wenn die Bezeichnung etwas anderes vermuten lässt, arbeiten Medizinhistoriker*innen wie andere Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen mit Literatur, Büchern, Aufsätzen und anderen Publikationen. „Es gibt auch Medizinhistoriker, die sich mit Objekten beschäftigen. Von der Arbeitsweise her sind wir aber quasi Geisteswissenschaftler in einem medizinischen Themenfeld“, so Leven. Und das öffnet auch Fachkräften der Soziologie, Germanistik oder verwandter Disziplinen den Zugang zur Medizinhistorik.

„Es gibt sogar einen Medizinhistoriker, der ursprünglich Musikwissenschaftler ist. Am Ende ist es wichtig, geisteswissenschaftliche Arbeitstechniken erlernt zu haben.“ Weiterhin unerlässlich für die Tätigkeit in der Medizinhistorik sei die Begeisterung für Geschichte: „Wer im Museum, in der Bibliothek oder beim Anblick eines historischen Gegenstandes nicht in Begeisterung gerät, wird der Medizinhistorik nicht viel abgewinnen können.“ Ein spezifisches Masterstudium, das eine offizielle Bezeichnung als Medizinhistoriker*in verleiht, gibt es nicht. „Bei dem Begriff Medizinhistoriker handelt es sich nicht um eine geschützte Berufsbezeichnung“, sagt Leven.

Das Fach zählt in Deutschland traditionell zu den Grundlagen der Medizin. Dadurch stellt sich für interessierte Nachwuchskräfte natürlich die Frage: Muss ich als Medizinhistoriker*in Medizin studiert haben? „Da lautet die Antwort ein klares Jein“, so Leven, „man muss das Fach vom Aufgabenprofil her begreifen. Beschäftigt man sich mit Medizin in der Antike, dann ist es manchmal sogar hinderlich, wenn man zu viel von modernder Medizin weiß, weil man zum Beispiel vorschnell vom alten Griechenland auf das Heute schließt.“ Aber hinsichtlich des Unterrichts in den medizinischen Studiengängen und für die Beschäftigung mit Themen der modernen Medizin erleichtere ein entsprechender Abschluss die fachliche Kommunikation sowie die Einarbeitung in medizinische Fragestellungen.

Einstiegsmöglichkeiten

Der Einstieg in das Feld der Medizingeschichte erfolgt wie für Karrieren in der Forschung typisch: Nach dem Abschluss schließt sich eine entsprechende Promotion an einem thematisch passenden Lehrstuhl an. Dementsprechend zählen zum akademischen Aufgabenbereich von Medizinhistoriker*innen letztlich die Hochschullehre sowie Schreibtisch- und Forschungsarbeit: Vorlesungen und Seminare müssen geplant, Prüfungen durchgeführt und Promotionen betreut werden.

Darüber hinaus halten Medizinhistoriker*innen Vorträge zu ihren Forschungstehmen, sowohl fachintern als auch für eine breitere Öffentlichkeit. Hinzu kommt das Verfassen von Publikationen, die sich mit medizingeschichtlichen Fragestellungen auseinandersetzen. „Diese sind essenziell, um im Feld der Medizinhistorik arbeiten zu können“, so Leven.

Doch die Zahl der Menschen, die sich in Deutschland hauptberuflich mit Medizingeschichte beschäftigen, ist gering; etwa 100 Fachkräfte schätzt Karl-Heinz Leven. Entsprechend komprimiert ist das Berufsfeld und damit verbunden die Karrieremöglichkeiten für Nachwuchskräfte. „Durch Corona merkt man zwar, dass medizinhistorische Themen außerhalb der Forschung gerade gefragt sind. Ob dieser Trend anhält, ist gegenwärtig nicht absehbar“, sagt Leven. Nicht nur, dass sich Medizinhistoriker*innen in einem zahlenmäßig überschaubaren Kreis bewegen; ihr Arbeitsschwerpunkt liegt ausschließlich im Forschungs- und Hochschulkontext. 

Soziologische Fragen der Medizin

Hochschulen und Forschungsinstitute zählen auch zu den primären Arbeitgebern zwei der Medizinhistorik nahen Fachbereichen. Denn auch die Medizinsoziologie sowie die Medizinische Soziologie setzen sich vor allem forschend mit Themen auseinander, die Medizin und Gesellschaft berühren. Und nicht nur in der hybriden Form zwischen Geisteswissenschaften und Medizin ähneln die Bereiche der Medizingeschichte. Auch in den Fragestellungen, mit denen sich Fachkräfte der Medizinsoziologie sowie Medizinischen Soziologie in ihrer Arbeit auseinandersetzen, finden sich Parallelen.

Allerdings richten die Bereiche mit soziologischem Kern den Blick auf gesellschaftliche Aspekte statt auf historische und verknüpfen diese mit medizinisch relevanten Fakten. So wird zum Beispiel die Beziehung zwischen Arzt oder Ärztin und Patient*in als soziale Rolle begriffen und hinsichtlich der ungleichen Verteilung von Machtressourcen wie Expertenwissen, Professionalisierung und Entscheidungskontrolle hinterfragt.

„Die Medizinische Soziologie fragt zum Beispiel auch, wie sich Armut auf Gesundheit beziehungsweise auf Krankheit auswirkt, welche Bevölkerungsgruppen eher von bestimmten Krankheiten betroffen sind oder über eine bessere Gesundheitskompetenz sowie mehr gesundheitsfördernde Ressourcen verfügen. Oder man setzt sich mit der Frage auseinander, welche Folgen für das Gesundheitswesen die Veränderung der Sozialstruktur hat, vor allem im Hinblick auf die Alterung der Bevölkerung“, erklärt Prof. Dr. Jochen Ernst vom Universitätsklinikum Leipzig. Dabei gilt es, die Medizinsoziologie und die Medizinische Soziologie zu unterscheiden.

Beide Fachrichtungen beschäftigen sich grundlegend mit der Rolle sowie der Bedeutung von Gesundheit und Krankheit in der Gesellschaft. In der Medizinsoziologie ist dabei allerdings unter anderem die Frage zentral, welche Formen und Folgen im gesellschaftlichen Verhalten durch dieses Verständnis von „gesund“ und „krank“ entstehen. Die Medizinische Soziologie nimmt medizinische Aspekte vergleichsweise stärker in den Fokus. „Das ist mein Arbeitsgebiet. Diese ist als solches Teil der Medizin. Die Medizinsoziologie hingegen ist Teil der Soziologie. Jedoch sollte man für beide Zweige Soziologie studiert haben“, erklärt Ernst.

Der Diplomsoziologe- und -sozialpädagoge schrieb seine Habilitation zum Thema Arzt-Patient-Beziehung in der Onkologie am Universitätsklinikum Leipzig und arbeitet in der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie. Von seiner ursprünglichen Studienfachwahl der Biotechnologie schwenkte er damals auf die Soziologie um und promovierte anschließend im Gebiet der Gerontologie, umgangssprachlich als Alterswissenschaft bekannt. Heute ist der Arbeitstag von Jochen Ernst vom laufenden Semester abhängig, und Lehre und Forschung wechseln wie für Hochschultätigkeiten typisch.

Er empfiehlt Fachkräften mit Interesse an soziologischen Fragen der Medizin so früh wie möglich, also im besten Fall bereits im Studium, den Schwerpunkt auf Medizinsoziologie oder die Medizinische Soziologie auszurichten. „Üblicherweise in Kombination mit Psychologie, aber auch Sozialarbeit und Erziehungswissenschaften sind denkbar“, so Ernst. Darüber hinaus sollte, wer in einem der Zweige Fuß fassen will, Erfahrung im Bereich der medizinischen Versorgung sowie Kenntnisse über wissenschaftliche Forschungsmethoden mitbringen. 

Jenseits der Hochschule

Medizinische Soziolog*innen sind zwar häufig, aber nicht ausschließlich im Wissenschaftsbetrieb tätig. Das zeigt sich auch exemplarisch an Jochen Ernsts eigenem Lebenslauf: „Nach meiner Promotion habe ich eine Zeit lang in der sozialpädagogischen Familienhilfe gearbeitet. Gleichzeitig habe ich berufsbegleitend Sozialarbeit studiert.“ So finden Fachkräfte der Medizinischen Soziologie oftmals bei kommunalen Institutionen wie Gesundheits- und Sozialämtern sowie statistischen Ämtern eine Anstellung.In der Wirtschaft kommen sie gegebenenfalls in der Personalplanung und in Abteilungen für Statistik oder Evaluation zum Einsatz.

„Auch Medizinsoziolog*innen können außerhalb der Hochschule als beispielsweise Referenten*innen bei Bundesbehörden und öffentlichen Einrichtungen wie zum Beispiel Krankenkassen arbeiten“, erklärt Dr. Timo-Kolja Pförtner. Der Privatdozent am Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR) der Humanwissenschaftlichen Fakultät und der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln sieht aber auch für Fachkräfte der Medizinsoziologie den Arbeitsschwerpunkt in der Forschung. Dies ist mitunter auf die interdisziplinäre Aufstellung des Fachbereichs zurückzuführen. Denn Medizinsoziologie berührt die Mikro- und Makrosoziologie, die Verhaltenspsychologie im Rahmen von Prävention und Gesundheitsförderung sowie Aspekte aus den Bereichen Gesundheitspolitik sowie Public Health.

„Allgemein geht es aber um die Frage, ob und inwieweit die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse die Gesundheit beeinflussen, also wie das Soziale unter die Haut geht“, so der studierte Sozialwissenschaftler. Seinen Weg in die Medizinsoziologie fand Timo-Kolja Pförtner nach einer Tätigkeit für ein Onlinemarktforschungsinstitut über ein Graduiertenkolleg der Universität Köln, an dem er zum Thema Armut und Gesundheit in Europa promovierte. Nach einer Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mediensoziologie an der Universität Halle-Wittenberg arbeitet und forscht er seit 2014 an der Universität zu Köln. 

Motivation ist wichtig

Angetrieben wird Timo-Kolja Pförtner von der Freiheit der Wissenschaft: „Das heißt, dass ich die Möglichkeiten habe, meine Neugier und auch mein soziales Interesse im Rahmen der Bearbeitung von Forschungsfragen zu stillen.“ Eine Motivation, die angehende Medizinsoziolog*innen unbedingt mitbringen sollten. Auch die Begeisterungsfähigkeit für neue Themen und Methoden nennt der Sozialwissenschaftler als notwendige Voraussetzung. „Am Ende braucht man auch ein gewisses Durchhaltevermögen wie auch eine Art Resilienz gegenüber Niederlagen. Zum Beispiel, wenn ein eingereichtes Manuskript von einem Journal abgelehnt wurde“, sagt Pförtner.

Den Moment, an dem er vom Sozialwissenschaftler zum Medizinsoziologen wurde, kann er nicht konkret benennen: „Ein entsprechender Studienabschluss ist mir in Deutschland nicht bekannt. Die Bezeichnung ‚Medizinsoziolog*in‘ wird offiziell nur von Professoren*innen getragen, die einen entsprechenden Lehrstuhl innehaben.“ Denn ebenso wie beim Ausdruck Medizinhistoriker*in handelt es sich bei der Berufsbezeichnung für Medizinsoziolog*innen um keine gesicherte Berufsbezeichnung.

Auf der einen Seite kann das die Jobsuche für Fachkräfte erschweren; man muss oft zwischen den Zeilen lesen und in den Anforderungen von Stellenprofilen nach den eigenen Qualifikationen Ausschau halten und einen guten Überblick über mögliche Forschungs- und Aufgabenbereiche haben. Auf der anderen Seite eröffnet sich dadurch aber auch der Zugang für Absolvent*innen verschiedener Fachrichtungen wie der Soziologie, Sozialwissenschaften, Politik und Psychologie mit entsprechendem medizinsoziologischem Fokus.

Ob Medizinhistorik, Medizinische Soziologie oder Medizinsoziologie – alle drei Bereiche bieten Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen die Möglichkeit, sich beruflich mit Fragen zu beschäftigen, die Medizin und Gesellschaft, damals wie heute, berühren. Die Herausforderung für Nachwuchskräfte besteht darin, früh herauszufinden, welche Themen und Schwerpunkte sie interessieren und aktiv nach passenden Tätigkeitsfeldern zu suchen – unabhängig davon, ob sie eine Karriere an der Hochschule, im öffentlichen Dienst oder in der Wirtschaft anstreben. 

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