Geschlechter im Fokus
Weiblein und Männlein: Sind diese Unterscheidungen sinnvoll? Und was ist mit Menschen abseits der „Norm“? Solchen Fragen geht die Forschung nach.

Geschlechter im Fokus

Wie wir über Geschlechter, Ungleichheiten und Diskriminierung denken und reden, verändert sich ständig. Expert*innen der Frauen- und Geschlechterforschung decken Missstände auf – und werden dafür nicht selten attackiert.

Text: Stefanie Schweizer 

Hanna Meißners Arbeitstag am Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG) der Technischen Universität Berlin bewegt sich, klassisch für den Wissenschaftsbetrieb, zwischen Lehre und Forschung; doch die Fragen, denen sich die Professorin für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung widmet, könnten nicht vielfältiger sein:

„Die Geschlechterforschung fragt, wie die vermeintlich natürliche Unterscheidung in zwei Geschlechter sowie die mit ihr verbundenen Ungleichheiten und Hierarchien historisch entstanden sind und in gesellschaftlichen Praxen immer wieder hergestellt und zugleich verändert werden. Sie untersucht, wie die Kategorie Geschlecht in die materielle Gestalt unseres gesellschaftlichen Lebens eingeschrieben ist – in wirtschaftlichen, kulturellen und technologischen Praxen, Institutionen und Artefakten.“

Und das offenbart sich im Alltag in ganz konkreten Diskursen, beispielsweise in der Entwicklung von Medikamenten, die vorwiegend den Mann als Prototyp des Menschen anführt. Oder genderspezifisches Design, das sich unter anderem in verschiedenen Preisen für bestimmte Produkte widerspiegelt. Und natürlich finden sich auch wichtige Aspekte der Geschlechterforschung in der sogenannten Toilettenfrage in öffentlichen Einrichtungen, in denen die Sanitäranlagen oftmals nach Mann und Frau getrennt sind und somit nonbinäre Personen diskriminieren.

Berührungspunkte mit dem Alltag der Menschen habe die vergleichsweise junge Disziplin viele, erklärt Hanna Meißner: „Die Frauen- und Geschlechterforschung berührt die Welt außerhalb des Wissenschaftsbetriebs im weitesten Sinn in der Wirtschaft, in einzelnen Unternehmen, Strukturen und Entwicklungen des Arbeitsmarkts, in der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung – zum Beispiel bezahlt versus unbezahlt, unterschiedliche Berufe und Felder –, in technologischen Entwicklungen, in Produktionsprozessen und so weiter.“ 

Disziplin mit Schnittstellen

Um all diese gesellschaftlichen Aspekte beschreiben zu können, nutzt die Frauen- und Geschlechterforschung Schnittstellen zu den Sozial- und Geisteswissenschaften, zur Landschafts- und Stadtplanung, zur Erziehungs- und Religionswissenschaft sowie zu Design und Medizin. „Die Frauen- und Geschlechterforschung ist ein interdisziplinäres Feld“, erklärt Meißner, sodass der Zugang zwar vor allem für Fachkräfte mit einem Schwerpunktstudium, aber auch für Absolventinnen und Absolventen verwandter Studienrichtungen und entsprechender Vertiefung möglich ist. So können auch Expertinnen und Experten der Soziologie, Geschichte oder Biologie Geschlechterforschung betreiben.

Dass der Bogen jedoch noch weiter gespannt werden kann, zeigen Forschungsvorhaben wie „Andere Räume. Soziale Praktiken der Raumproduktion von Drag Kings und Transgender“ von Dr. Nina Schuster. Die soziologisch-ethnografische Studie analysiert am Beispiel der Raumproduktion der Drag King- und Transgender-Szene in Deutschland „wie in sozialen Praktiken alltäglich geschlechtliche und sexuelle Normen in städtischen und Szenekontexten ausgehandelt werden“. Durchgeführt wurde die Arbeit an der Fakultät für Raumplanung im Fachgebiet Stadt- und Regionalsoziologie an der Technischen Universität Dortmund. 

Für eine Anstellung im Wissenschaftsbetrieb sollten Nachwuchskräfte daher vor allem Interesse mitbringen, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken und sich auch in anderen Fachrichtungen und Themen des Alltags auf die Suche nach Geschlechterkonzepten zu machen. „Neugierde für kritisches Denken, Hartnäckigkeit in der Auseinandersetzung mit anspruchsvollen theoretischen Texten sowie fundiertes Wissen über Theorien und Forschungsfelder der Geschlechterforschung sind wichtige Aspekte für eine Tätigkeit in derselben“, so Meißner.

Zu den täglichen Aufgaben der Soziologin in der Forschung zählen unter anderem das Lesen von forschungsrelevanter Literatur, die Diskussion sowie Abstimmung mit den Kolleg*innen, das Schreiben von Publikationen, aber auch von Forschungsanträgen zur Genehmigung von Drittmitteln. Hinzu kommt die Konzeption und Durchführung von Lehrveranstaltungen, die Beratung der Studierenden sowie die Betreuung der Promovierenden. 

Angegriffen und bedroht

Neben den branchenüblichen Schwierigkeiten wie der befristeten Anstellung im Hochschulkontext stehen Frauen- und Geschlechterforscher*innen erschreckenderweise immer wieder vor einer eher ungeahnten Herausforderung: So wurde beispielsweise Anfang 2014 laut Tagesspiegel eine Kasseler Soziologin auf Facebook bedroht, weil sie „ein sozialpädagogisches Buch für die Arbeit mit Jugendlichen veröffentlicht[e], in dem sie Methoden zur Diskussion von sexueller Vielfalt vorstellt.“

Auch Lann Hornscheidt, Professx für Sprachwissenschaft, wird immer wieder mit transphoben Aussagen konfrontiert; unter anderem, weil Lann Hornscheidt sich für alternative, geschlechtsneutrale Bezeichnungen wie „Professx“ ausspricht. „Politische Angriffe gegen die Geschlechterforschung, aber auch persönliche Bedrohung einzelner Forscher*innen im Feld sind keine Seltenheit“, erklärt Meißner.

Um diesen Reaktionen mit einer starken Haltung und Argumentationssicherheit zu begegnen, bietet das Gunda-Werner-Institut in Kooperation mit den Landesstiftungen der Heinrich-Böll-Stiftung Seminare zum Umgang mit antifeministischen Aussagen an. Mit dem Seminar „Demokratie braucht Feminismus!“ veranstaltet der GreenCampus der Heinrich-Böll-Stiftung ein zweistündiges Online-Seminar und zeigt den Teilnehmenden Strategien, um Antifeminismus im digitalen Raum entgegenzutreten. Diese Angebote richten sich zwar nicht gezielt an Geschlechterforscher*innen, empowern aber dennoch.   

Für Fachkräfte, die in die wissenschaftliche Geschlechterforschung einsteigen wollen, führt der Weg oftmals über die Promotion. Themenspezifische Promotionskollegien wie die Graduate School of Social Siences bietet Fachkräften der Gesellschafts- oder der Geschlechterforschung Einstiegsmöglichkeiten. Ab Mai 2021 nimmt gleichfalls das DFG-Graduiertenkolleg der Universität Bielefeld „Geschlecht als Erfahrung. Konstitution und Transformation gesellschaftlicher Existenzweisen“ seine Arbeit auf. Aber auch im Organisationsbetrieb bieten Hochschulen Stellen beispielsweise als Gleichstellungsreferent*in.

Für Fachkräfte, die eine Anstellung außerhalb der Hochschullandschaft anstreben, ist der Stellenmarkt durchaus aussichtsreich: „Je nach fachlicher Ausrichtung und inhaltlicher Schwerpunktsetzung im Studium ist eine Beschäftigung in äußerst vielfältig Bereichen möglich. Zum Beispiel in Bildungseinrichtungen, in der öffentlichen Verwaltung, in Gewerkschaften, in zivilgesellschaftlichen Organisationen und Unternehmen der Privatwirtschaft, zumal, wenn diese die Charta der Vielfalt unterzeichnet haben und Fachkompetenz zu deren Umsetzung brauchen“, erklärt Meißner. In der Wirtschaft arbeiten Absolvent*innen mit Gender-Kompetenz für Unternehmen der Markt- und Meinungsforschung oder entwerfen Personalentwicklungsstrategien und Führungskonzepte, die die Gleichstellung aller Geschlechter fördern. 

Von der Theorie in die Praxis

Je nach Profil und Fokus einer ausgeschriebenen Stelle variiert die Geschlechterkompetenz, die Bewerbende mitbringen sollen. So inserierte die Heinrich-Böll-Stiftung kürzlich zwei Stellen: Die Referent*innenstelle zur Studienförderung forderte vorzugsweise MINT-Fachkräfte mit Gender- und Diversitätskompetenz zur Bewerbung auf, während parallel die Stelle für eine Leitungsperson des Auslandsbüros in Prag gute Kenntnisse über geschlechter- und LSBTQI-politisch Fragen der Region voraussetzte.

Die München Klinik wiederum schrieb eine Mitarbeitendenstelle zur Beratung in gleichstellungs- und gleichbehandlungsrelevanten Fragen aus. Bewerben konnten sich Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen mit Kenntnissen über Gleichstellung, Gleichbehandlung und Erfahrung in der LGBT-Arbeit. „Forschungsbasierte Genderkompetenz ist eine wichtige Schlüsselqualifikation für Beschäftigte in der Wirtschaft sowie eine praktische Kompetenz im Bereich von Technikentwicklung und Produktdesign“, weiß Meißner.

Gefragte Kompetenz

Auch im Journalismus, in der politischen Arbeit und im Bildungsbereich sind Geschlechterforscher*innen und Fachkräfte mit Genderkompetenz gefragt. So ist die Diplom-Sozialpädagogin Sarah Navarro seit knapp drei Jahren Bildungsreferentin der Fachstelle Gender & Diversität NRW (FUMA) und überführt Theorien der Geschlechterforschung in die Praxis. „Ich entwickle und konzipiere Blended Learning- und Präsenzfortbildungen und auch reine E-Learning-Angebote wie zum Beispiel die FUMA Lernkarten. Konkret heißt das, ich wähle ein aktuelles Thema, gestalte dazu Wissensinputs und erarbeite Methoden beziehungsweise modifiziere vorhandene Übungen“, erklärt Navarro. Darüber hinaus ist sie als FUMA Trainerin tätig und bietet Webseminare an, zum Beispiel zum Thema bodyismuskritische Pädagogik. 

Theorien der Frauen- und Geschlechterforschung sind laut Sarah Navarro das Basiswissen ihrer Arbeit: „Andererseits bilde ich mich stetig weiter, um aktuelle Themen in die Fortbildungen einfließen zu lassen.“ Denn in Sarah Navarros Arbeit geht es darum, unter anderem genderspezifische Benachteiligungsstrukturen zu erkennen und proaktive Lösungen für eine diskriminierungskritische, queerfeministische, pädagogische Praxis zu finden.

„Wie können wir pädagogische Fachkräfte so fit machen, dass sie diese Benachteiligungen erkennen und zu ihrem Abbau beitragen können?“, fasst Navarro zusammen. Für eine Tätigkeit bei der FUMA sollten Nachwuchskräfte der Gender Studies, Sozialwissenschaften oder Sozialpädagogik didaktisches Basiswissen mitbringen. „Kenntnis über die Methoden der Erwachsenenbildung, sozialwissenschaftliches Grundlagenwissen zum Thema Gender und Diversität sowie idealerweise erste Erfahrungen in der Anleitung von Gruppen sind ebenfalls von Vorteil. Außerdem ist es wichtig, Spaß an der Gestaltung von Lern- und Bildungsräumen für Erwachsene sowie ein breites Interesse an sozialwissenschaftlichen (Gender-)Themen zu haben“, so Navarro.

Wer Fächer wie Germanistik, Philosophie, Bildende Kunst oder Nachhaltigkeitsmanagement ohne Genderschwerpunkt studiert hat, aber dennoch den Einstieg in den Bereich wagen will, kann sich über sogenannte Gender Trainings fehlende Kompetenzen aneignen.

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