Therapie im Gefängnis: Zwischen Nähe und Distanz
Wer Gefangene therapeutisch behandeln möchte, muss eine Beziehung zu ihnen aufbauen und sich in sie hineinversetzen, sagt Gefängnispsychologe Willi Pecher.
Interview: Melissa Strifler
Seit 1988 ist Willi Pecher Gefängnispsychologe und leitet seit 2010 die Sozialtherapeutische Abteilung Gewaltdelikte in der Justizvollzugsanstalt München. Nebenberuflich ist der 61-Jährige zudem seit 15 Jahren als Gutachter für Prognoseentscheidungen tätig.
WILA Arbeitsmarkt: Mit welcher Ausbildung hat man als Gefängnispsychologe gute Chancen?
Willi Pecher: Im bayerischen Strafvollzug werden bevorzugt Psychologen mit klinischem, eventuell rechtspsychologischem Schwerpunkt eingestellt. Für die Mitarbeit in der Sozialtherapie ist eine Approbation erwünscht, für Leiter dieser Einrichtungen ist sie Voraussetzung. In anderen Bundesländern sind Psychologen auch häufiger als Anstaltsleiter tätig, und deshalb bietet sich hier auch ein organisationspsychologischer Schwerpunkt an.
"Sensationsgier oder Bestrafungsimpulse sind hinderlich bei der Arbeit im Gefängnis."
Was würden Sie denjenigen raten, die überlegen, diesen beruflichen Weg einzuschlagen?
Ein menschliches Interesse an straffällig gewordenen Menschen ist Voraussetzung, Sensationsgier oder Bestrafungsimpulse sind hinderlich. Wer Straffällige behandeln will, muss bereit sein, sich auf eine therapeutische Beziehung einzulassen, die gleichermaßen Nähe und professionelle Distanz umfasst. Unumgänglich ist die Bereitschaft, sich selbst regelmäßig zu reflektieren, zum Beispiel in Supervisionen. Dabei geht es um Fragen wie: Was löst das Delikt in mir aus?
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Mit welchen Persönlichkeitsanteilen des Gefangenen kann ich mich verbünden im Sinne einer ressourcen-orientierten Arbeit? Wo muss ich mich klar abgrenzen im Sinne einer Arbeit an Defiziten? Man muss sich klar sein, dass man Teil der Gesamt-Institution Justizvollzug ist und nicht ein freiberuflicher Therapeut, der eben seinen Praxisraum im Gefängnis hat. Dazu gehört, dass einen auch die Gefangenen als Teil der strafenden Institution wahrnehmen, was aufgegriffen und bearbeitet werden muss, und dass man selbst in ein hierarchisches System eingebunden ist. In fachlicher Hinsicht bleibt aber ein großer gestalterischer Spielraum.
Welche Aufgaben haben Sie?
Ich leite die sozialtherapeutische Abteilung Gewaltdelikte mit 16 Behandlungsplätzen. Das Team besteht aus drei weiteren Psychologinnen in Teilzeit, zwei Sozialpädagogen und sechs Vollzugsbeamten. Die Therapieteilnehmer sind wegen Tötungsdelikten, Körperverletzung, Raub oder selten auch Brandstiftung zu langen Haftstrafen bis hin zu lebenslanger Haft oder Sicherungsverwahrung verurteilt.
Neben den Leitungsaufgaben führe ich selbst Gruppentherapien und einige wenige Einzeltherapien durch. Wie jeder Psychologe und Sozialpädagoge der JVA bin ich rund einmal im Monat einen Tag lang zu Aufnahmegesprächen mit allen Neuzugängen eingeteilt. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt dabei auf der Erkennung von Suizidgefahr.
"Entscheidungen zu treffen, die für den Gefangenen mitunter erheblich längere Haftaufenthalte bedeuten, finde ich menschlich oft schwierig."
Was macht Ihnen Spaß am Job?
Die unmittelbare Arbeit mit den Gefangenen mache ich meist gerne. Immer wieder ist zu beobachten, dass auch bei schwierigsten Biografien und erheblichen psychischen Beeinträchtigungen förderliche Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt werden können. Selten stoßen meine Kollegen und ich aber auch an Grenzen, sodass wir die Behandlung abbrechen müssen, weil keine positive Veränderung erreichbar ist.
Solche Entscheidungen zu treffen, die für den Gefangenen mitunter erheblich längere Haftaufenthalte bedeuten, finde ich menschlich oft schwierig. Anstrengend finde ich mitunter, die Belange der Behandlung mit den sonstigen Abläufen in der JVA in Einklang zu bringen. In einer Institution, die nicht primär auf Heilung, sondern Bestrafung ausgerichtet ist, ist es kräftezehrend, Therapie zu etablieren.
Was sind die größten Herausforderungen und Besonderheiten in diesem Job?
Die große Kunst in jeder Therapie, im Gefängnis aber vielleicht besonders, ist die Spannung aus Nähe und Distanz. Ich muss mich einerseits als Therapeut auf das Innenleben meines Patienten einlassen. Der Freud-Schüler Ferenczy formuliert pointiert: „Ohne Sympathie keine Heilung“. Wohl kein Patient würde sich einem Therapeuten anvertrauen, von dem er Gleichgültigkeit, Ablehnung oder gar Verachtung spürt.
Im Falle von Straffälligen, die zum Teil abscheuliche Verbrechen begangen haben, stellt das eine besondere Herausforderung für den Therapeuten dar. Andererseits muss ich, damit eine Therapie erfolgversprechend ist, im Behandlungsprozess immer wieder „einen Schritt zurücktreten“, um gemeinsam mit dem Patienten problematische Einstellungen und Verhaltensmuster zu erkennen und zu reflektieren. Vereinfacht kann man sagen, dass es darum geht, sich von der Tat und Dispositionen klar abzugrenzen, den Täter als Person aber zu respektieren.
"Eine gewisse Neugier hat bei mir sicher eine Rolle gespielt."
Warum haben Sie sich für diesen Beruf entschieden?
Sicher hat bei mir eine gewisse Neugier eine Rolle gespielt und die Tatsache, mit besonderen Menschen in Berührung zu kommen, die einem als niedergelassener Therapeut selten begegnen. Zu sozialen Randgruppen habe ich mich vorher schon hingezogen gefühlt.
Wie können Sie sich sicher sein, dass Sie die Gefangenen richtig beurteilen?
Prognoseentscheidungen beruhen immer auf Wahrscheinlichkeiten, und deshalb kann es aus wissenschaftstheoretischen Erwägungen keine hundertprozentige Sicherheit geben. Aus Untersuchungen weiß man, dass Straffällige mit bestimmten Merkmalen eher eine gute oder eher eine schlechte Prognose haben. Dann muss aber noch eine Einzelfallüberprüfung erfolgen. Die Prognosemethoden haben sich im Laufe der Zeit zunehmend verbessert.
Trotzdem kann es vorkommen, dass sich der Gutachter ganz an den wissenschaftlichen Standards orientiert und sehr sorgfältig gearbeitet hat und zu einer positiven Prognose gelangt ist, aber im Ergebnis doch ein Rückfall erfolgt. Die Öffentlichkeit hat hier unrealistische Erwartungen an Sicherheit. Einem Arzt, der eine Operation nach allen Regeln seiner Heilkunst durchgeführt hat, kann man auch keine Vorwürfe machen, wenn der Patient trotzdem nicht überlebt. Rückfälle sind somit nie auszuschließen.
"Dass Gefangene versuchen, sich in einem möglichst günstigen Licht darzustellen, damit ist zu rechnen."
Wurden Sie bei der Beurteilung schon einmal getäuscht?
In über 30 Berufsjahren kommt es natürlich vor, dass man eine Beurteilung abgegeben hat, die dann nicht zutraf. Dass Gefangene versuchen, sich in einem möglichst günstigen Licht darzustellen, damit ist zu rechnen. Fachwissen und Erfahrung lassen einen aber die allermeisten Fälle durchschauen, wo man grob getäuscht werden soll.
Was war Ihr schwierigster Fall?
Wenn ein Straftäter Lustgewinn daraus zieht, anderen Angst einzujagen oder sie durch seine Gehässigkeit zu quälen, so wird er dieses Verhalten bewusst oder unbewusst auch innerhalb der Therapiebeziehung praktizieren. Mein schwierigster Fall war ein Gefangener, bei dem ich immer erst nach der Therapiesitzung gespürt habe, dass er mir „eine Dosis Gehässigkeit“ verpasst hatte.
Ich habe zu lange versucht, mit ihm an diesem Verhalten zu arbeiten und zu spät die Therapie abgebrochen. Dadurch habe ich mir unnötig geschadet und ihm auch nicht weitergeholfen, weil er wieder die Erfahrung machen konnte, mit Genuss andere manipulieren zu können.
"Therapie ist im Strafvollzug am besten im Team zu leisten."
Wie schaffen Sie es, Mörderinnen und Straftäter zu verstehen und dann auch richtig zu therapieren?
Wenn es mir beim besten Willen nicht gelingt, mich in das Innenleben eines Gefangenen einzufühlen, weil es mir zu fremd ist oder mich zu sehr abstößt, gibt es vielleicht einen Kollegen, dem das gelingt. Darum ist Therapie im Strafvollzug am besten im Team zu leisten.
Wenn es keinem im Team gelingt, muss man den Kandidaten ablehnen. Therapie ist nämlich immer Beziehungsarbeit und nie allein Behandlungstechnik, die aus emotionaler Distanz heraus geleistet werden könnte. Dies gilt ganz besonders für Persönlichkeitsstörungen, die häufigste Diagnose in der Straftäterbehandlung.
Sind Sie noch schockiert, wenn Sie Erzählungen von Mörder/innen hören?
Natürlich berühren mich die Taten, aber oft auch die Biografien der Täter. Davon aber wieder Abstand zu gewinnen, ist Teil des professionellen Umgangs. Wäre ich nur mitfühlend, könnte ich keinen Veränderungsprozess initiieren, der ja auch manchmal konfrontierend verlaufen muss. Zudem gehört Selbstschutz zur Professionalität.
Würde ich durch Überidentifizierung meine Arbeitsfähigkeit verlieren, wäre weder dem Patienten noch mir gedient. So nehme ich selten „etwas mit nach Hause“. Die eine Stunde Radfahrzeit zwischen Arbeit und Wohnung helfen mir, in der Regel „gedanklich gereinigt“ zuhause anzukommen.
"Jeder Bedienstete hat ein Personennotrufgerät."
Haben Sie auch schon mal Angst vor Ihren Klient/innen?
Täglich Angst habe ich nicht. Man darf zwar nicht verdrängen, dass gefährliche Situationen entstehen können, wäre aber arbeitsunfähig, wenn man ständig in Angst wäre. Sollten gefährliche Situationen entstehen, hat jeder Bedienstete ein Personennotrufgerät. Für Verhalten bei gefährlichen Situationen wie einer Geiselnahme, die Gott sei Dank extrem selten vorkommt, gibt es Schulungen und professionelle Handlungsanweisungen.
Sind Sie schon mal in Gefahr geraten?
In 31 Jahren bin ich nie körperlich angegriffen worden. Einmal habe ich mein Büro verlassen und habe Hilfe geholt, weil ein Gefangener – wie sich später herausstellte – einen psychotischen Schub hatte und sich von mir bedroht fühlte. Ein andermal geriet ein junger Gefangener in Rage, weil ich ihn aus einer Gesprächsgruppe herausnahm.
Er hatte dort ein derart dominantes Verhalten gezeigt, dass die anderen Gruppenteilnehmer sich nichts mehr zu sagen trauten. Er wurde aber mir gegenüber „nur“ verbal ausfällig. Einmal hat mir ein Gefangener angekündigt, wenn ich nicht in seinem Sinn entscheiden würde, könnte es passieren, dass mein Name auf einer Liste im Darknet auftaucht. An mehr bedrohliche Situationen erinnere ich mich nicht.
"Am Anfang sind die meisten Gefangenen sehr misstrauisch."
Wie reagieren die Gefangenen auf die Therapie?
Keiner wird zur Therapie gezwungen. Aber natürlich spielt eine Rolle, dass man nach erfolgreicher Absolvierung einer Therapie bessere Chancen auf Vollzugslockerungen (Ausführung, Ausgang, Urlaub) hat und leichter vorzeitig entlassen wird. Am Anfang sind die meisten Gefangenen sehr misstrauisch, was in der Therapie auf sie zukommt. Vorstellungen von einer Art „Gehirnwäsche“ sind nicht selten.
Was ist das Wichtigste, das Sie in all den Jahren über Verbrecher/innen gelernt haben?
Bei den meisten Menschen, die im Gefängnis gelandet sind, gibt es Hoffnung. Es sind wirklich nur ganz wenige, bei denen mit den jetzt bekannten Behandlungsmethoden absolut nichts zu erreichen ist. Man braucht aber Zeit, Geduld und muss oft bereit sein, einen Vertrauensvorschuss zu geben.
"Routine ist eine notwendige Entlastung."
Wie ist es, jeden Tag in ein Gefängnis zu gehen als Arbeitsstelle? Wird das mit der Zeit normal?
Natürlich wird es mit der Zeit normal. Wäre das nicht so, könnte man auf Dauer hier nicht tätig sein. Routine ist eine notwendige Entlastung, die in jedem Beruf eine Rolle spielt. Sie darf aber nicht zur Abstumpfung führen.