Einen Ort zum Durchatmen bieten
Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung ist weiterhin ein großes Problem, auch unter Jugendlichen. Außerdem sind Inter- und Transmenschen von gesellschaftlicher Akzeptanz noch weit entfernt. Hier gibt es noch viel zu tun – als Gesellschaft und für Fachkräfte.

Einen Ort zum Durchatmen bieten

Als Sozialarbeiterin unterstützt Mirjam Müllen queere Jugendliche. Im Jugendzentrum GAP bietet sie jungen Menschen Beratung, aber auch „Wohnzimmeratmosphäre“ und einen sicheren Raum.

Text: Melissa Strifler

Mirjam Müllen gefällt die Arbeit mit jungen Menschen und der herzliche Umgang mit ihrem Team. Sie arbeitet seit über fünf Jahren beim Jugendzentrum GAP in Bonn – zuerst als geringfügig Beschäftigte, nach nur vier Monaten als pädagogische Leitung. „Das war so kurz nach dem Abschluss des Studiums erst einmal eine ganz schön große Herausforderung“, erinnert sie sich. Die 40-Jährige steht mit ihrem vierköpfigen Team den Jugendlichen zur Seite, gibt ihnen Tipps, psychosoziale Beratung zum Thema Outing und praktische Hilfe, vermittelt Fachberatung, unterstützt bei der Suche nach Arbeitsstellen oder begleitet sie zu wichtigen Terminen auf Ämter.

Doch es gibt Momente, in denen Mirjam Müllen auch an ihre Grenzen stößt. „Manchmal sind die Geschichten der Jugendlichen so traurig und die Probleme so überwältigend groß, dass ich selbst Supervision oder kollegiale Beratung benötige,“, erklärt sie. Als Jugendliche hätte sie so ein Jugendzentrum gut gebrauchen können. Zu der Zeit hatte sie zu Hause noch keinen Internetzugang, über den sie sich hätte informieren können. „Ich fühlte mich damals mit meinem Lesbisch-sein sehr allein. Mittlerweile bin ich verheiratet, und wir haben eine wundervolle Tochter, die zweieinhalb Jahre alt ist.“

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Wichtig bei einem Job in diesem Bereich, vor allem mit Jugendlichen, sind ihrer Meinung nach Empathie, Reflexionsvermögen und die Bereitschaft „viel von mir als Person zu geben“. Aber auch ihr Studium sowie eine Weiterbildung als systemische Beraterin helfen ihr bei ihrer täglichen Arbeit. Zuerst war Mirjam Müllen fünf Jahre als Fotografin selbstständig, mit 31 Jahren begann sie, Soziale Arbeit in Köln zu studieren.

Der Studiengang hat der Sozialarbeiterin allerdings wenig spezielles Wissen vermittelt, das sie in ihrem Job im Jugendzentrum wirklich anwenden kann. „Er hat mir aber geholfen, meine persönliche Haltung zu entwickeln.“ Müllen sieht ihre lesbische Orientierung als Vorteil für ihre Arbeit. „Erstens, weil man Outingerfahrung hat und damit der Lebenswelt der Jugendlichen näher ist und sie besser versteht. Auf der anderen Seite sind die jungen Menschen aber auch auf der Suche nach Rollenbildern und wünschen sich Gespräche mit erwachsenen schwulen, lesbischen oder transsexuellen Personen“, erzählt Mirjam Müllen.

Mirjam Müllen gibt als Sozialarbeiterin viel von sich preis, trennt aber dennoch Beruf und Privatleben; Foto: privat

„Gerade im Erstkontakt mit jungen Mädchen erlebe ich es oft, welch bedeutsames Ereignis es für sie ist, mit einer erwachsenen, lesbischen Frau zu sprechen.“ Um an die Jugendlichen heran zu kommen, zeigt Mirjam Müllen viel von sich persönlich. Trotzdem kann sie ihre Grenzen genau ziehen – auch um Beruf und Privatleben trennen zu können.

Auf der täglichen To-do-Liste stehen Beratungsgespräche, kollegialer Austausch, Fallbesprechungen sowie das Verfassen von Konzepten und Berichten. Außerdem kommuniziert Mirjam Müllen mit dem Jugendamt, besucht Fortbildungen, plant Aktionen und Ausflüge und kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit.

Die Jugendlichen kommen hauptsächlich in das GAP, weil sie im Alltag diskriminiert werden. „Deshalb brauchen sie manchmal einfach einen Ort zum Durchatmen.“ Mirjam Müllen weiß aus jahrelanger Erfahrung, dass die identitätsbildende Phase der Jugend oft Unsicherheiten mit sich bringt, die das Outing vor Eltern, Freundinnen und Freunden schwierig machen.

„Wenn ich nach meinem Gefühl gehe, hat sich vieles in den vergangenen Jahren zum Besseren hin geändert. Trotzdem bin ich persönlich weit davon entfernt, dies zu feiern, denn immer noch ist ‚schwul‘ das meistgenannte Schimpfwort auf Schulhöfen, immer noch haben Nicht-hetero- und Nicht-cis-Jugendliche eine höhere Suizidalitätsrate oder Anfälligkeit für Drogensucht“, erklärt Mirjam Müllen. „Studien belegen sogar, dass die gesellschaftliche Akzeptanz rückläufig ist.“ Der Begriff cis bezeichnet alle Menschen, deren Geschlechts­identität mit dem Geschlecht übereinstimmt, dem sie nach der Geburt zugeordnet wurden.

Vor sieben Jahren wurde das GAP als „schwul-lesbisches“ Jugendzentrum gegründet. Heute spricht es vor allem diejenigen an, die sich als schwul, lesbisch, bi, trans, queer, non-binary bezeichnen, aber auch die, die sich nicht einordnen können und sich noch nicht sicher sind. „Das GAP steht für den Versuch, verschiedenen Menschen einen sicheren Raum zu stellen. Es bietet eine Lücke und schließt eine Lücke“, erklärt Mirjam Müllen. „Die Jugendlichen schätzen es, einen Raum zu haben, in dem sie so sein dürfen, wie sie wollen.“

Mirjam Müllen beschreibt die familiäre Stimmung als „Wohnzimmeratmosphäre“. Jeder und jede könne sein, wie er oder sie ist, ohne Angst zu haben, ausgeschlossen zu werden. „Ich denke, es ist ein langer Weg, denn Heteronormativität ist in unserer Gesellschaft tief verwurzelt und verinnerlicht“, sagt Mirjam Müllen. „Das fängt schon in Kinder- und Schulbüchern an, in denen meist heterosexuelle Familienformen abgebildet werden – also Mama, Papa, Kind.“

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