Lehrermangel an Waldorfschulen
Lebenspraktisches zu lernen spielt an Waldorfschulen eine große Rolle. Deshalb ist Gartenbau ein eigenes Schulfach (Foto: Boggy/Fotolia).

Lehrermangel an Waldorfschulen

Waldorfschulen suchen dringend Lehrkräfte: Rund 522 freie Stellen sind Anfang Juli 2018 ausgeschrieben. Diese Schulform verlangt viel Eigeninitiative von den Lehrer/innen – striktes befolgen des Lehrplans ist hier fehl am Platz.

Interview: Christine Sommer-Guist

Henning Kullak-Ublick (Foto: Charlotte Fischer/BdFWS) ist Vorstandssprecher im Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS). Der 63-Jährige hat drei Klassen hintereinander jeweils vom ersten bis zum achten Schuljahr als Klassenlehrer begleitet. Seit elf Jahren leitet er die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des BdFWS in Hamburg und bereitet die internationalen Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum der Waldorfschulen vor, das 2019 gefeiert wird.

WILA Arbeitsmarkt: Wie kamen Sie in die Waldorfschule?
Henning Kullak-Ublick: Während meines Landwirtschaftsstudiums lernte ich die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise und die An­throposophie kennen. Aber eigentlich war es meine Freundin und heutige Frau, die mich zu einem Besuch an ihre Schule einlud. Das war der Auslöser, Waldorflehrer werden zu wollen. Zeitgeschichtlich war es die Zeit der Nachrüstung, der Öko- und der Friedensbewegung. Ich wollte über die Erziehung der Kinder meinen Teil zur Rettung der Welt beitragen.

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Welche Lehrkräfte werden an Waldorfschulen gesucht?
Wir suchen sehr dringend Lehrer/innen für alle klassischen MINT-Fächer, insbesondere für die naturwissenschaftlichen Fächer. Wir brauchen aber auch immer Klassen- und Fremdsprachenlehrer/innen. Wir brauchen eigentlich das volle Programm!

"Kinder müssen selbst entdecken und selbst lernen."

Welche Kompetenzen brauchen Menschen, um an Waldorfschulen zu unterrichten?
Ich würde gerne das Wort „Kompetenzen“ durch das Wort „Fähigkeiten“ ersetzen, denn es geht vor allem um die Bereitschaft, selbst lebenslang zu lernen. Es gibt einen Satz von Rudolf Steiner, den ich sehr liebe: „Jede Erziehung ist Selbsterziehung. Und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes.“ Dieser Satz verdeutlicht, dass Lehrer/innen eine Umgebung für Kinder schaffen müssen, innerhalb derer diese Lust und Freude entwickeln, selbst zu entdecken und selbst zu lernen.

Diese „Kompetenz“ muss täglich neu erarbeitet werden. Waldorflehrer/innen brauchen zudem die Fähigkeit, Wissen so zu verdichten und in Bilder zu bringen, dass Kinder die Möglichkeit haben, das Wissen selbst zu erfahren, zu reflektieren und zu eigenen Begriffen zu kommen. Diese Bereitschaft, mit den Kindern zusammen auf eine nicht endende Entdeckungsreise zu gehen, ist mit dem Wort „Kompetenz“ nur bedingt zu umschreiben. Denn diese Reise beinhaltet, dass man sich selbst verändert und immer wieder überraschen lässt, auch von dem, was die Kinder selbst herausfinden.

"Copy und Paste ist fehl am Platz"

Wie wichtig ist die Identifikation der Lehrerinnen und Lehrer mit den Lehren Rudolf Steiners?
Das ist eine interessante Frage, die nach dem Parteibuch. Die Waldorfpädagogik ist aber kein geschlossenes System, mit dem man sich nur ganz oder gar nicht identifizieren kann. Sie ist vor allem ein Übungsweg zu einer lebendigen Menschenkenntnis und zur besseren Wahrnehmung der Kinder.

Niemand muss dafür irgendwelche Bekenntnisse ablegen, aber die Überzeugung, dass jedes Kind eine einzigartige, unverwechselbare Individualität ist, gehört schon zum Kern dieser Pädagogik. Wir wollen den Schüler/innen helfen, sich innerhalb ihres Körpers wohlzufühlen und ihre Seelenkräfte, also das Wollen, Fühlen und Denken, immer selbstständiger zu beherrschen, damit sie zu freien Persönlichkeiten heranwachsen. Deshalb sollten sich künftige Waldorflehrer/innen schon mit dem „Wie“, der Methodik und ihren Grundlagen, auseinandersetzen. Nur mit „Copy und Paste“ geht es nicht.

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Welche Rollen spielen die Lehren Steiners im Unterricht an den Schulen des 21. Jahrhunderts?
Im Unterricht spielen Steiners Lehren überhaupt keine Rolle, aber die Waldorfpädagogik fußt auf seinen Arbeiten, und ich bin immer wieder überrascht, wie viele Anregungen seine Ausführungen für die pädagogischen Herausforderungen unserer Zeit bieten. Wie viel man sich davon zu eigen macht, muss jeder Mensch für sich selbst bestimmen.

"Eigeninitiative ist gefragt."

Was würden Sie jungen Akademiker/innen sagen, warum es sich lohnt, Waldorflehrer/in zu werden?
Weil sie eine sehr, sehr große Freiheit haben, in dem was sie machen. Weil sie die Möglichkeit haben, sich auf jedes Kind einzulassen und mit ihm neue Wege zu gehen – und das über eine lange Zeit! Weil ihre eigene Initiative gefragt ist – und sie nicht irgendwelchen Lehrplänen dienen müssen. Weil sie ihr eigenes Wesen einbringen, alle ihre schöpferischen, kreativen Kräfte, ihre Fantasie und ihre Ideen in die Gestaltung des Unterrichtes ebenso wie in die Gestaltung der ganzen Schule fließen lassen können.

Wenn man das afrikanische Sprichwort nimmt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“, dann ist jede Waldorfschule so ein Dorf. Wer Freude daran hat, selbstständig zu sein und sich auf die Kinder zu konzentrieren, der ist bei uns herzlich willkommen.

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