Gegen Willkür und Sanktionen
Hartz-IV-Sanktionen treffen junge Menschen unter 25 besonders drastisch: Sie riskieren einen Zahlungsstopp für Miete und Heizung. Beratungsstellen können den Betroffenen helfen (Foto: Wayhome Studio/Fotolia).

Gegen Willkür und Sanktionen

Sanktionen empfinden viele Hartz-IV-Empfänger/innen nicht nur als ungerecht, sondern auch als bedrohlich. Wie sie sich gegen Leistungskürzungen wehren, berichten Betroffene und Beratungsvereine.

Text: Astrid Eichstedt

Seit seiner Einführung im Jahr 2005 ist das Arbeitslosengeld II (ALG II), auch Hartz IV genannt, ein Synonym für gesellschaftlichen Abstieg. Viele denken dabei an Menschen, die ihr Dasein faul vor der Glotze fristen. Zur Verbreitung solcher Klischees haben Medien und auch die Politik kräftig beigetragen. Jene „Arbeitsverweigerer“ bei jeder Verfehlung mit Sanktionen zu strafen, entspricht schließlich auch dem Motto „Fordern und Fördern“, mit dem Gerhard Schröder 2003 den Umbau des Sozialstaats einleitete.

Wie man unterhalb des Existenzminimums oder ganz ohne Geld legal überleben soll, scheint nachrangig zu sein. Im August 2018 bekamen laut Bundesagentur für Arbeit 5,88 Millionen Menschen Hartz IV. Davon waren 4,13 Millionen erwerbsfähig. Diejenigen darunter, die gut ausgebildet sind und dringend nach einer seriösen Stelle suchen, stehen gewöhnlich nicht im Fokus. Statistisch ist der Anteil an Hochschulabsolvent/innen nicht eigens erfasst. Expertinnen und Experten sind sich jedoch einig, dass es so wenige nicht sind.

Lieber Kellnern als zum Jobcenter

Auch wenn viele Akademiker/innen lieber kellnern gehen als sich beim Jobcenter vorzustellen, gibt es gute Gründe, sich für Letzteres zu entscheiden. Zum Beispiel, um sich als alleinerziehende Mutter um sein Kind kümmern zu können, oder – was im Wissenschaftsbetrieb nicht selten vorkommt – weil jemand die Zeit zwischen zwei Forschungsaufträgen überbrücken muss, keine Rücklagen da sind und sich kurzfristig keine geeignete Stelle findet. Manchen ist aber auch das Selbstbewusstsein für die Suche nach einem Job abhandengekommen.

So erging es Daniela Baumann (Name von der Redaktion geändert). Die heute 40-Jährige bezog von 2007 bis 2013 Hartz IV, in den letzten fünf Jahren als sogenannte Aufstockerin. Nach dem Studium der Philosophie mit den Nebenfächern Psychologie und Soziologie, das sie mit sehr guten Examensnoten abschloss, fand sie rasch eine Halbtagsstelle, die sie jedoch wegen Mobbing genauso schnell wieder verlor. Um sich nach einer neuen Stelle umzusehen, fehlte ihr damals die Kraft: „Ich glaubte, dass mich ohnehin niemand mehr wollen würde und dass ich offenbar nicht für diese Arbeitswelt geschaffen sei. Mein Selbstbewusstein war im Keller.“

Um finanziell über die Runden zu kommen, entschloss sich Baumann, ALG II zu beantragen. „Mein erster Gang zum Jobcenter endete damit, dass ich sofort wieder nach Hause umkehrte, weil ich das Gefühl hatte: Das kann es jetzt nicht sein! Es war eine totale Schmach“, erinnert sie sich. Ein Freund überredete sie, dennoch einen Antrag zu stellen.

Weil sie im Folgenden sehr darum bemüht war, keine Fehler zu machen, wurde Baumann zwar nie sanktioniert, dennoch hing diese Möglichkeit ständig wie ein Damoklesschwert über ihr: „Ich hatte immer Angst, was passieren würde, wenn ich etwas falsch mache“, erzählt sie. „Ich hatte auch Angst vor den Gesprächsterminen und Angst, wie lange das noch so weitergehen würde. Über meinem Leben schwebte eine ständige Unsicherheit.“

Hoher Beratungsbedarf

Dass das Jobcenter nicht zuletzt durch die angedrohten Sanktionen viel Angst und Druck erzeugt, kann Frank Jäger vom Wuppertaler Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles bestätigen: „Ich kenne Menschen, die aus Angst vor Terminen im Jobcenter schon Wochen vorher psychosomatische Beschwerden bekommen.“ Jäger, der ursprünglich Politologie und Geschichte studiert hat, ist seit über zehn Jahren als freiberuflicher Referent für Sozialrecht und Sozialpolitik tätig. Zudem ist er mit Harald Thomé im Vorstand von Tacheles, für den er ehrenamtlich als Sozialberater, Referent und Online-Redakteur arbeitet.

Der Verein, der 1994 als Selbsthilfeinitiative von Sozialhilfeempfänger/innen gegründet wurde, bietet heute eine umfassende Arbeitslosen- und Sozialberatung sowie Unterstützung bei der Durchsetzung von Leistungsansprüchen gegenüber Behörden an, also auch bei Widersprüchen gegen Hartz-IV-Sanktionen. Tacheles wird von 15 Mitarbeiter/innen weitgehend ehrenamtlich organisiert.

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Manche Hartz-IV-Empfänger/innen wenden sich gleich nach dem Studium an Tacheles, um sich im Vorfeld zu informieren, was sie beim ALG II erwarten würde. „Oft versuchen sie dann doch erstmal einen Job zu finden, anstatt einen Antrag zu stellen. Daran zeigt sich, wie gut die Abschreckung des Hartz-IV-Systems funktioniert“, sagt Jäger. Zu ihm kommen auch Ratsuchende, um ihre Leistungsbescheide auf Korrektheit überprüfen zu lassen oder eben, weil sie von Sanktionen betroffen sind, die wegen sogenannter Melde- und Verhaltenspflichten verhängt wurden.

"Fallmanager müssen Mindeststandards erfüllen."

Wenn jemand zum Beispiel einen Termin im Jobcenter versäumt hat, nicht die vorgeschriebene Anzahl an Bewerbungen vorlegen kann, einen Job ablehnt oder vorzeitig abbricht, kann ihm die Fallmanagerin oder der Fallmanager den monatlichen Regelsatz von derzeit 416 Euro für Alleinstehende vorübergehend kürzen. Im Wiederholungsfall kann er gegebenenfalls sogar vollständig gestrichen werden.

Die Entscheidung, Sanktionen zu verhängen und triftige Gründe für Versäumnisse als solche anzuerkennen, hängt sowohl von der Geschäftspolitik des jeweiligen Jobcenters als auch von der einzelnen Mitarbeiterin oder dem einzelnen Mitarbeiter ab. Die relativ großen Ermessenspielräume können Willkür und Schikane mit sich bringen. „Zwar müssen die Fallmanager bestimmte Mindeststandards erfüllen und werden auch kontrolliert. Aber wie sie mit den Leistungsberechtigten umgehen, ist sehr unterschiedlich“, erklärt Jäger.  

Nur wenige wehren sich gegen die Kürzungen

In den zurückliegenden fünf Jahren verhängten Jobcenter jährlich zwischen rund 940.000 und 1.000.000 Sanktionen. Dementsprechend hoch ist der Bedarf an Beratung. Wegen des guten Rufs, den sich Tacheles im Laufe der Jahre erworben hat, reisen zur persönlichen Sprechstunde nicht nur Menschen aus Wuppertal, sondern aus verschiedenen Bundesländern an. Auch die telefonische Sprechstunde, die aus Kapazitätsgründen nur einmal pro Woche stattfindet, ist gut ausgelastet.

Für Interessierte finden sich zudem auf der Website des Vereins viele nützliche Tipps und Informationen, die fortlaufend aktualisiert werden. Dort erfährt man beispielsweise, dass einer Leistungskürzung eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung vorangehen muss, die konkret auf den Fall bezogen, verständlich und ausreichend begründet ist. Ansonsten kann Widerspruch gegen den Sanktionsbescheid eingelegt und später gegebenenfalls Klage erhoben werden. Das gilt ebenso, wenn ein triftiger Grund vorliegt, der das „pflichtwidrige“ Verhalten entschuldigt.

Allerdings wehren sich nur fünf bis sieben Prozent der Sanktionierten. „Die meisten Leistungsempfänger“, so Jäger, „kennen ihre Rechte nicht. Zudem rechnen sie sich in einem möglichen Rechtsstreit nur wenige Chancen aus.“ Tatsächlich aber werden rund 45 Prozent der Widersprüche und Klagen zugunsten der Betroffenen entschieden.

Schon dieser hohe Anteil zeige, dass mit den Sanktionen häufig übers Ziel hinausgeschossen werde, meint der Experte. Wer seine Rechte gegenüber dem Jobcenter durchsetzen will, dem rät er, Hilfe bei einer seriösen Beratungsstelle zu suchen.

Anerkannte Versäumnisgründe

Dem kann Inge Hannemann nur beipflichten. Die oft als „Hartz-IV-Rebellin“ titulierte Aktivistin hat selbst jahrelang in verschiedenen Jobcentern gearbeitet. Bekannt wurde sie, weil sie sich weigerte, regelmäßig Sanktionen zu verhängen, deswegen letztlich ihren Job als Fallmanagerin verlor und sich vielfach öffentlich kritisch zu Wort meldete.

Auch sie rät Akademiker/innen im Hartz-IV-Bezug, sich unbedingt an eine Beratungsstelle zu wenden – vor allem, wenn sie Sanktionen ausgesetzt sind. Sie selbst hat als Fallmanagerin jeden Leistungsbescheid der von ihr betreuten Hartz-IV-Empänger/innen genau geprüft. Weil sie in nahezu jedem zweiten Bescheid Fehler fand und es aus ihrer Sicht zudem von Fall zu Fall gute Gründe für Versäumnisse oder sonstige „Pflichtverletzungen“ ihrer Klient/innen gab, formulierte Hannemann häufig Widerprüche – auch gegen Sanktionen.

"Selbstständig Widerspruch einzulegen, ist zu kompliziert."

Etwa 70 Prozent der Sanktionen werden im Übrigen wegen Terminversäumnissen verhängt. Viele Jobcenter akzeptieren keine Krankmeldungen, sondern verlangen Wegeunfähigkeitsbescheinigungen vom Arzt. Die Expertin empfiehlt hierzu den Paragraphen 10 im Sozialgesetzbuch II zu lesen, der anerkannte Gründe für Versäumnisse auflistet. Selbstständig Widerspruch einzulegen, dazu war kaum einer ihrer Klientinnen und Klienten in der Lage: „Weil es einfach viel zu kompliziert ist. Also habe ich die Widersprüche geschrieben, sie auf einem anderen Papier ausgedruckt und von den Leistungsempfängern unterschreiben lassen.“

Sind Kürzungen verfassungsgemäß?

In der Vergangenheit haben Expertinnen und Experten vielfach diskutiert, ob Bestrafungen in Form von Kürzungen des Existenzminimums überhaupt verfassungsgemäß sind. Auch wenn die Befürworter/innen damit argumentieren, dass es ja zusätzlich noch Lebensmittelgutscheine gebe – die Leistungsbezieher/innen also nicht verhungern müssten –, ist sich die Mehrheit der Fachleute darüber einig, dass das jetzige System zumindest einer Reform bedarf.

Seit 2016 liegt dem Bundesverfassungsgericht die Eingabe des Sozialgerichts Gotha zur Prüfung der möglichen Verfassungswidrigkeit von Hartz-IV-Sanktionen vor. Eigentlich sollte die Entscheidung dazu bis Ende 2018 fallen; doch es wird wohl noch länger dauern. Dass die Sanktionen ganz abgeschafft werden, ist eher unwahrscheinlich.

"Die verschärften Sanktionen für unter 25-Jährige verstoßen meines Erachtens gegen das Gleichbehandlungsprinzip."

Wie Inge Hannemann hofft auch Frank Jäger, dass zumindest die verschärften Sanktionen für unter 25-Jährige angeglichen werden: „Sie sind meines Erachtens ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsprinzip. Es ist nicht nachvollziehbar, dass einer bestimmten Personengruppe nur aufgrund ihres Alters das Existenzminimum bereits nach einer Plichtverletzung entzogen werden kann. Auch aus pädagogischen Gründen ergibt das keinen Sinn.“

Die Erfahrungen zeigen, dass sich viele junge Menschen dann komplett aus dem Leistungsbezug zurückziehen und überhaupt nicht mehr melden. Sie verschwinden einfach vom Schirm der Jobcenter, was diese wiederum als Erfolg verbuchen.

Somit liegt der Rückgang der offiziellen Arbeitslosigkeit bei Personen unter 25 Jahren womöglich auch daran, dass viele gar nicht mehr gemeldet sind. Eine andere drastische Sanktionsmaßnahme, die bei unter 25-Jährigen besonders schnell greift, wird hoffentlich ebenfalls zurückgenommen: der Zahlungstopp von Miete, Heizung und Krankenversicherung, der dramatische Folgen haben kann.

Unzumutbare Jobangebote

Eine der größten Sorgen, die vor allem gut ausgebildete Hartz-IV-Empfänger/innen umtreibt, ist die Angst vor unzumutbaren Jobangeboten, deren Ablehnung ebenfalls zu Sanktionen führen kann. Letztlich gilt ja jede Tätigkeit als zumutbar, solange die oder der Betreffende körperlich und mental dazu in der Lage ist, sie auszuüben. Theoretisch kann somit jede/r Uniabsolvent/in auch als Lagerhelfer/in vermittelt werden.

"Den Menschen wird schlicht ihre Qualifikation geraubt."

Abgesehen von der Fallhöhe und der damit verbundenen Schmach hat dieses Verfahren auch seine Tücken, wie Hannemann weiß: „Viele finanzieren sich zwar mit unqualifizierten Jobs ihr Studium, doch im Jobcenter wird langfristig gedacht. Und wenn Sie eine Weile als Lagerhelfer gearbeitet haben, sucht das System in einem Matchingverfahren nur noch nach Lagerhelfern. Nach vier Jahren kann der Fallmanager dann sagen: ‚Vier Jahre arbeitslos: unqualifiziert‘. In dem Moment wird den Menschen schlicht ihre Qualifikation geraubt.“

Von unzumutbaren Jobangeboten blieb Daniela Baumann verschont. Zwar sollte sie auch Bewerbungen an Zeitarbeitsstellen schicken, da sie jedoch stets genügend qualifizierte Stellen fand, für die sie sich bewerben konnte, war das nicht nötig. Vom Jobcenter bekam sie während der sechs Jahre nur ein einziges entsprechendes Angebot zugeschickt. Doch nach einem Jahr Arbeitslosigkeit wurde ihr einer der raren Bildungsgutscheine für eine Weiterbildung speziell für Akademiker/innen bewilligt.

Kaum Bildungsgutscheine für Akademiker/innen

Gewöhnlich werden Weiterbildungen vorwiegend für diejenigen als sinnvoll angesehen, die zusätzliche Qualifizierungen brauchen, um überhaupt wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Da ein Hochschulabschluss schon die höchstmögliche Qualifikation darstellt, müssen Akademiker/innen glaubhaft nachweisen, dass sie eine bestimmte Weiterbildung benötigen, damit sie auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen haben.

Der weitaus größte Teil des Budgets für die meist immer gleichen Trainingsmaßnamen, wie etwa Bewerbungstrainings, wird bereits im Vorjahr eingekauft. Für individuelle, höher qualifizierende Weiterbildungen bleiben am Ende nur 10 bis 15 Prozent des Budgets übrig. Weil die Verwaltungskosten zudem einen wachsenden Teil des eigentlich für die Eingliederung vorgesehenen Etats verschlingen, ist das Budget für die Weiterbildung von Hartz-IV-Empfänger/innen knapp.

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Wie aus der Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der Grünen hervorgeht, wurden 2016 von insgesamt 4,5 Milliarden Euro, die im Bundeshaushalt für sogenannte Eingliederungsmaßnahmen ursprünglich zur Verfügung standen, nur knapp 3,4 Milliarden Euro für diese Zwecke ausgegeben. Davon abgesehen hängt die Bewilligung einer Weiterbildung wiederum vom Ermessen der jeweiligen Fallmanagerin oder des jeweiligen Fallmanagers ab. Daniela Baumann gelang es, ihren Fallmanager zu überzeugen. „Es lag wohl daran, dass ich ihm einen langen Brief schrieb, in dem ich alle Argumente aufzählte, die dafür sprachen, dass ich danach einen Job finden könnte“, erzählt sie.

Im Endeffekt war die fünfmonatige Ausbildung zur Trainerin und Moderatorin für sie dann tatsächlich eine Basis, auf der sie sich mit einem „Philosophischen Dienst“ selbstständig machen konnte. „Ich habe dann alles angenommen was an mich herantrat: Arbeitszimmer aufgeräumt, für Unternehmensberatungen Interviews geführt, Power-Point-Präsentationen erstellt, an Potenzialanalysen mitgewirkt und als Coach für Zeitmanagement und Berufsfindung gearbeitet.“

"Statt die Arbeitssuchenden zu unterstützen, wurden sie entmündigt."

Ihren gesamten Lebensunterhalt konnte Baumann von ihren Honoraren als Freiberuflerin zunächst dennoch nicht bestreiten. Als Aufstockerin beantragte sie daher bis 2013 weiterhin zusätzlich Hartz IV. Heute schreibt sie an ihrer Dissertation. Finanziell unterstützt wird sie von ihrem neuen Lebenspartner.

Während sich Baumann gegenüber dem Jobcenter aus Angst vor Sanktionen stets sehr pflegeleicht verhielt, wurde ihre Haltung Hartz IV gegenüber zunehmend kritischer. „Ich fand, dass da etwas grundlegend falsch läuft. Statt die Arbeitssuchenden zu unterstützen, wurden sie entmündigt. Die Wenigen, die wirklich nicht arbeiten wollen, könnte man in meinen Augen in Ruhe lassen.

Sie würden schließlich auch auf keiner Arbeitsstelle jemals wirklich gut arbeiten. Und diejenigen, die etwas erreichen wollen, müsste man bei ihren Plänen unterstützen, anstatt sie kurzfristig in Billigjobs zu pressen und sich dann über den Fachkräftemangel zu beklagen.“ Nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen mit Hartz IV engagiert sich die heute 40-Jährige für ein Bedingungsloses Grundeinkommen.  

„Grundeinkommen light“

Ein Bedingungsloses Grundeinkommen wünscht sich auch Helena Steinhaus. Die studierte Kulturwissenschaftlerin ist Geschäftsführerin des 2015 in Berlin gegründeten Vereins Sanktionsfrei, zu dessen Gründungsmitgliedern auch Inge Hannemann gehört. Solange unsere Gesellschaft von der Bedingungslosigkeit der Grundsicherung weit entfernt ist, will Sanktionsfrei aus Hartz IV eine Art „Grundeinkommen light“ machen.

Über Fördergelder und vor allem Spenden, die der gemeinnützige Verein über seine Online-Plattform sanktionsfrei.de sammelt, sorgt er mit einem Solidartopf dafür, dass Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger/innen ausgeglichen werden. Jeden Monat wird der Solidar-Etat von rund 4.000 Euro verteilt. Steinhaus wundert sich, dass nicht noch wesentlich mehr Anfragen kommen. „Aber es braucht sicher eine Zeit, bis wir das Vertrauen der Leute gewinnen. Viele Menschen denken wahrscheinlich: ‚Das kann doch gar nicht sein, dass ich einfach so ohne Gegenleistung Geld bekomme!‘“

Sanktionsfrei meint es wirklich ernst

Anfang 2018 hat der Verein zusätzlich „HartzPlus“ eingeführt, das ähnlich funktioniert wie eine Versicherung – ohne Beitragszahlung: Sanktionsfrei zahlt derzeit 25 Menschen, die von Sanktionen betroffen sind oder deren Leistungen aus anderen Gründen nicht voll ausgezahlt werden, ein Jahr lang bis zu 200 Euro pro Monat aus. Das Geld wurde über Crowdfunding gesammelt.

Den Initiatorinnen und Initiatoren geht es auch darum, herauszufinden, wie sich das Lebensgefühl und das Verhalten der Menschen ändert, wenn sie mit Vertrauen und Sicherheit versorgt werden anstatt mit Druck und Bestrafung. „Obwohl es nur ein bedingungsloses Hartz IV ist, merken wir tatsächlich einen enormen Unterschied“, sagt Steinhaus. Überdies arbeitet Sanktionsfrei mit Rechtsanwält/innen zusammen, die deutschlandweit kostenlos Widersprüche erstellen – mit einer Erfolgsquote von 90 Prozent.

"Wer sanktioniert wird, sollte sich an eine Beratungsstelle wenden."

Steinhaus weiß selbst, wie es sich anfühlt, Hartz-IV-Sanktionen ausgesetzt zu sein. Nach ihrem Studium bezog sie zweimal jeweils ein halbes Jahr lang Hartz IV. Weil sie Termine versäumt hatte, wurde auch sie sanktioniert. „Ich wusste jedesmal, dass es nur vorübergehend sein würde, da ich Jobs in Aussicht hatte. Deshalb war es erträglich“, sagt sie. „Doch die Termine im Jobcenter habe ich als sehr schlimm empfunden.“ Was also tun, wenn die psychische Belastung zu groß wird?

Hannemann empfiehlt, die eigenen Stärken auf Zettel zu schreiben und diese in der Wohnung zu platzieren: „Sich auf seine Stärken konzentrieren und das zu visualisieren: ‚Ich bin gut. Ich habe das und das geleistet. Ich habe die und die Ausbildung.‘ Ich glaube, das ist sehr wichtig. Und wer sanktioniert wird, sollte sich Unterstützung bei einer Beratungsstelle suchen.“

Um Sanktionen vorzubeugen, rät sie zudem, viel Eigeninitiative zu zeigen und sich selbst intensiv um eine neue Stelle zu bemühen. „Dann sind die Mitarbeiter der Jobcenter in der Regel zufrieden. Zumal die internen Jobbörsen ja ohnehin nur wenige Stellen hergeben, von denen man leben kann, ohne zusätzliche Gelder vom Jobcenter zu beantragen.”

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