Artenkenner - eine bedrohte Art
Die Vögel immer im Blick: Artenkennerinnen und Artenkenner sind auf dem Arbeitsmarkt Mangelware. Foto: Clipdealer

Artenkenner - eine bedrohte Art

Fehlende Vorbilder, verstaubtes Image: Artenkenner/innen sind vom Aussterben bedroht. Eine berufliche Chance für den akademischen Nachwuchs?

Text: Cornelia Dick-Pfaff 

Ein Liedchen auf den Lippen, die Botanisiertrommel lässig umgehängt, fröhlich hüpfend über die Heide zu ziehen – das machen Kinder wohl schon lange nicht mehr. Vermutlich wissen sie nicht einmal mehr, was das überhaupt für ein Ding ist, eine Botanisiertrommel. Es handelt sich dabei um einen Behälter aus Blech, meist in Form eines länglichen Zylinders, der an einem Riemen über die Schulter gehängt wurde.

Man verwendete diese Box aus Blech zum Sammeln von Pflanzenteilen. Dort waren die auf einem Spaziergang gefundenen botanischen Schätze gut und sicher für den Transport nach Hause untergebracht. Daheim konnten dann in aller Ruhe die Arten bestimmt und dokumentiert werden.

"Um es etwas überspitzt auszudrücken: Artenkenner/innen sind vom Aussterben bedroht."

Die fast in Vergessenheit geratene Sammelbüchse für botanische Beute ist somit aus mehrfacher Sicht ein geeignetes Symbol für einen Berufszweig, der ebenso wie viele Arten vom Aussterben bedroht scheint: der Artenkenner. Der Name legt es schon nahe – ein Artenkenner ist jemand, der sich bei bestimmten Tier- und/oder Pflanzenarten besonders gut auskennt, also sicher darin ist, sie zu erkennen beziehungsweise die Art exakt zu bestimmen.

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Das kann in ganz unterschiedlichen Bereichen der Fall sein, beispielsweise bei Vögeln, Amphibien, bestimmten Insektengruppen wie Libellen, bei Fledermäusen oder auch speziellen Pflanzengruppen. Artenkenner/innen müssen nicht zwingend studierte Biologen sein. Häufig sind es Leute mit einem starken Interesse an der Natur, die sich schon lange mit der Bestimmung von Arten beschäftigen und gerne und viel draußen unterwegs sind. Doch der Nachwuchs fehlt.

"Es gibt nur wenig neue Leute mit Sachverstand.“ 

Um es etwas überspitzt auszudrücken: Artenkenner/innen sind vom Aussterben bedroht. Was vielleicht ein wenig dramatisch klingt, könnte für jeden, der sich für Tier- oder Pflanzenbestimmung oder sogar beides interessiert, eine echte berufliche Chance sein. Denn Artenkenner werden händeringend gesucht. „Die Leute würden Ihnen aus der Hand gerissen“, sagt Dr. Kai Frobel, Leiter des Naturschutzreferates vom BUND Naturschutz Bayern. „Die Planungsbüros brauchen Leute, die sich auskennen beziehungsweise wenigstens einen Grundstock mitbringen, der sich ausweiten lässt. Heutzutage ist man schon heilfroh, wenn ein Amphibienkenner kommt. Der kann sich in andere Arten einarbeiten. Doch selbst für vergleichsweise einfache Gruppen wie beispielsweise Vögel oder eben Amphibien fehlen die Fachleute. Es gibt nur wenig neue Leute mit Sachverstand.“ 

Frobel weiß sehr gut, wovon er redet. Gemeinsam mit Dr. Helmut Schlumprecht vom Büro für ökologische Studien in Bayreuth hatte er eine umfangreiche, intensive persönliche Befragung von Artenkenner/innen durchgeführt und die Antworten von insgesamt 70 Experten analysiert.

Die Fragen zielten unter anderem auf die generelle Einschätzung des Ausmaßes des Problems bei Artenkennern, die quantitative Entwicklung in den vergangenen 20 Jahren im persönlichen Umfeld sowie auf mögliche Gründe für diese Entwicklung. Nicht zuletzt wollten sie noch wissen, welche Lebensumstände und Erlebnisse bei den Befragten selbst einst das intensive Interesse an Arten weckten und die Motivation förderten, sich nicht nur oberflächlich in diese Materie einzuarbeiten.

"Wir haben ein bis zwei Generationen verloren"

Die Ergebnisse der Erhebung belegen eine schon längst befürchtete Tendenz: Das 2014 im Auftrag des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) entstandene Gutachten mit dem Titel „Erosion der Artenkenner – Ergebnisse einer Befragung und notwendige Reaktionen“ bestätigt und quantifiziert einen Rückgang der Artenkenner um 21 Prozent in den vergangenen 20 Jahren.

Zudem ist eine Überalterung zu beobachten, denn nicht einmal mehr acht Prozent der derzeitigen Artenkenner sind noch unter 30 Jahre alt; die meisten haben das 50. Lebensjahr schon deutlich überschritten. „Diese Situation ist besorgniserregend, weil in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher und politischer Bedeutung des Erhalts der weltweiten Biodiversität ausgerechnet die fachkundigen Bürger und Spezialisten fehlen, die Biodiversität überhaupt noch bestimmen können“, heißt es im Gutachten. „Diese Untersuchung soll die Dimension des Problems darstellen, die komplexen Ursachen beleuchten und mögliche Lösungswege aufzeigen.“

„Seit geraumer Zeit zeichnet sich in der Branche ein Unbehagen ab“, so Frobel. Man höre häufig Aussagen wie „Mir fehlen die Leute“ oder „Ich finde keinen mehr“. So befürchten manche der befragten Expert/innen aus biologischen Büros und Naturschutzverbänden etwa, für einige Artengruppen bald keinen Experten mehr zu haben. Was völlig wegbricht, seien die Arten-Allrounder sowie die absoluten Spezialisten. „Wir haben ein bis zwei Generationen verloren und in den nächsten fünf bis zehn Jahren ist ein massiver Einbruch zu erwarten“, urteilt Frobel. Doch der Naturschützer sieht auch einen positiven Trend: „Der Scheitelpunkt der negativen Entwicklung ist schon überschritten. Das Problem ist erkannt, und der Wendepunkt ist da. Ich denke, die Universitäten werden sich dem Thema jetzt auch zunehmend öffnen.“ 

Fehlende Vorbilder, verstaubtes Image

Doch woran liegt es, dass die Zahl der Artenkenner schrumpft? Vermutlich gibt es mehr als eine Ursache. „Es handelt sich nicht nur um ein vielleicht eher nachrangiges Nachwuchsproblem von Naturschutzverbänden, sondern um eine Folge und das Symptom einer bundesweiten Entwicklung, bei der alle gesellschaftlichen Ebenen, in denen Artenkenntnis eine Rolle spielt, betroffen sind“, schreiben Frobel und Schlumprecht in ihrem Gutachten.

Die Entwicklung einer bald zu erwartenden Erosion von Artenkennern vollziehe sich – trotz mehr Lehrplaninhalten zu Ökologie, trotz einer im Vergleich zu früher inflationären Anzahl populärwissenschaftlicher Bestimmungsbücher, trotz Internet-angeboten und Naturfilmen, trotz massiv ausgebauter Angebote an Umweltbildung und Naturerfahrung für Kinder und Jugendliche – offenbar auf allen Ebenen: in Schulen, Universitäten, Forschungsinstituten, Fachbehörden, Planungsbüros, naturkundlichen Museen, Naturschutzzentren, Landschaftspflegeverbänden oder Schutzgebietsverwaltungen.

Ein nicht zu unterschätzender Faktor dürfte darin liegen, dass es Kinder und Jugendliche heutzutage weniger in die Natur zieht als früher. Es gibt unzählige Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung, so dass draußen bei vielen nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Noch dazu finden die meisten Kinder im unmittelbaren bebauten Wohnumfeld nur noch wenig bis gar keine Natur.

Echte Erlebnisräume zum Entdecken fehlen. Selbst auf dem Land ist Wildnis nicht mehr gleich vor der Haustüre, sondern häufig ein paarhundert Meter entfernt – erst recht in der Stadt. Insbesondere für Jugendliche seien Computerspiele, Smartphones und das im Vergleich zu früher große Medienangebot verlockender als das Erkunden der Natur, sagten die befragten Artenkenner. Es gebe ihrer Ansicht nach zu viele alternative Reize, etwa Ablenkung durch die Unterhaltungsindustrie. Und nur den wenigsten wird schon im Kindesalter von den Eltern nahegebracht, dass es da draußen eine Vielzahl von Pflanzen und Tieren zu finden gibt.

Auffallend viele der Artenkenner erzählten in der Befragung, dass vor allem die familiäre Motivation eine entscheidende Rolle dabei gespielt hatte, dass sich ihr Interesse für die Artenkenntnis entwickelte. Oft war es gar nicht spezifisches Fachwissen, sondern schlicht ein allgemeines Interesse an der Natur, das schon früh vorgelebt wurde. Man war eben oft draußen mit der Familie am Wochenende, und der Vater kannte die ein oder andere Art und hat sie gezeigt.

Das genügte, um im Kindesalter die lebenslange Begeisterung zu wecken. Angesichts dessen spielt die moderne Freizeitgestaltung von Familien vermutlich durchaus eine Rolle dabei, dass es weniger Artenkenner gibt als früher. Doch auch in der Schule wird der speziellen Kenntnis von Pflanzen und Tieren immer weniger Bedeutung beigemessen. Selbst Lehrern fehlt häufig entsprechendes Fachwissen.

Überraschend oft sahen die Befragten zudem ein Problem im schlechten, verstaubten, bisweilen sogar verschrobenen Image der „Spezies Artenkenner“. Sie befürchten, dass Artenkenner als „Freaks“ angesehen werden, dass es als „uncool“ gilt, sich mit dem Beobachten der Natur und dem Bestimmen von Arten zu beschäftigen. 

Knackpunkt Universitäten

Dass Artenkenner derzeit Mangelware sind, daran ist die Entwicklung an den Universitäten in den vergangenen Jahrzehnten allerdings auch nicht ganz unschuldig. Vielerorts geriet die klassische Biologie langsam nahezu in Vergessenheit, beziehungsweise ihr wurde in Zeiten von Molekularbiologie und Genetik, von Laborarbeit und DNA-Analysen immer weniger Bedeutung zugemessen.

Klassische Botanik und Zoologie hatten ein verstaubtes Image. Beides galt als langweilig und veraltet, fand immer weniger Anerkennung. Die scheinbar echte Biologie fand verstärkt in den moderneren, molekularbiologisch geprägten Bereichen statt. Dabei ist qualifizierte Geländearbeit alles andere als trivial. „Laborarbeit ist viel weniger anspruchsvoll“, sagt Frobel.

„Die Zahl der Professoren, die organismische Biologie oder Taxonomie vermitteln, ist stark zurückgegangen“, erläutert er. „Die Lehrstühle fehlen. Die Unis bilden stark industriebezogen aus – nicht mehr, um die Natur zu beobachten, sondern um sie zu manipulieren.“

Gingen Professoren etwa von Lehrstühlen für Ökologie oder Taxonomie in den Ruhestand, waren die Nachfolger kaum Ökolog/innen oder Taxonom/innen. „Und wenn die Professoren fehlen, fehlen auch die Möglichkeiten, beispielsweise, um eine Masterarbeit zu schreiben.“ Die Unis haben seiner Meinung nach die Nachfrage im Naturschutzbereich verschlafen. Erst langsam stellen sich diese Bereiche wieder neu auf. 

„Die Gründe für den Rückgang von Artenkennern sind multikausal“, fassen Frobel und Schlumprecht in ihrem Gutachten zusammen. „Viele alternative Freizeitgestaltungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche, Artenkenntnisverlust bei Lehrern, dramatischer Abbau entsprechender Lehrangebote an den Universitäten und allgemeine Imageprobleme des Artenschutzes.“

Lange muss sich üben

Aus welchen Gründen der Mangel auch entstanden sein mag – er ist da und akut und bietet jenen, die sich für spezielle Botanik oder Zoologie begeistern, berufliche Möglichkeiten. „Für Bayern allein liegt die derzeitige Zahl der Artenkenner bei circa 5.000, die Masse sicher Ornithologen“, erläutert Frobel. „Besser untersuchte Artengruppen wie Libellen haben in Bayern 250 Artenkenner. Bundesweit gibt es keine Zahlen, aber wir reden hier sicher von einer Größenordnung von 30.000 bis 50.000 Menschen und damit von mehreren Zehntausend, die wir suchen und gerne als Nachwuchs neu motivieren wollen.“

Eine Hürde gibt es allerdings zu überwinden: Arten sicher und souverän zu erkennen und zu bestimmen, das lernt man nicht mal eben so in einem Abendkurs oder aus ein paar Büchern. Und selbst in ein oder zwei Bestimmungskursen an der Universität erlangt man nicht die nötige Praxis. „Das kann das eigene Erleben draußen in der Landschaft nicht ersetzen“, betont Frobel. Das Wichtigste ist die Felderfahrung, also die Erfahrung und die Übung draußen in der Natur. Wer Interesse und mindestens einen kleinen Grundstock mitbringt, auf dem man aufbauen kann, hat gute Karten bei der Jobsuche. Die Praxis zu erlangen, dauert Jahre – drei bis fünf Minimum. 

Doch wie und wo kann man sich geeignete Qualifikationen erwerben? Da sich das Interesse für die Artenkenntnis in verschiedenen Lebensaltern herausbilden kann, „sind sehr unterschiedliche Institutionen gefordert, von der klassischen Umweltbildung über Schulen, Universitäten, Naturschutzzentren und Umweltstationen bis zu verbandlichen Angeboten für Senioren“, so Frobel und Schlumprecht. „Es ist daher notwendig, auf verschiedenen Ebenen kooperativ an der Problemlösung zu arbeiten.

Eine spartenübergreifende Zusammenarbeit und Abstimmung ist die Basis für eine Verbesserung der Situation.“ Das Fördern ist mitunter allerdings gar nicht so einfach. Denn häufig sind die absoluten Spezialisten zwar vortrefflich auf ihrem Gebiet – aber leider nur selten so pädagogisch begabt oder geschult, so dass sie ihr wertvolles Wissen auch effektiv anderen vermitteln können. „Das sind häufig starke Spezialisten, die auch Probleme haben, das weiterzugeben.“ Daher brauche es wiederum Schulungen, in denen Artenkenner lernen, ihr Wissen weiterzugeben. 

„Es gibt noch dermaßen viel zu entdecken da draußen!“

Wer sich bereits im Studium vorstellen kann, später als Artenkenner zu arbeiten, bei dem ist viel Eigeninitiative gefragt. Die wenigsten Studiengänge liefern die Felderfahrung frei Haus und wenn überhaupt nur einen Grundstock, der bei weitem nicht ausreicht. Man muss sich um vieles selbst kümmern – insbesondere, wenn es um die Abschlussarbeit geht.

Doch auch wer nicht schon seit der Kindheit oder den ersten Studienjahren mit wachsender Begeisterung durch die Botanik robbt und Pflanzen und Tieren nachstellt, sondern sich vielleicht nach dem Studium, in mittleren Jahren oder gar erst im Rentenalter umorientieren möchte, hat Chancen. Viele Naturschutzverbände bieten unterschiedlichste Möglichkeiten für den Einstieg in die Materie – etwa Pflanzenbestimmungskurse in verschiedenen Jahreszeiten.

Auch Angebote für Frauen mittleren Alters oder Senioren gibt es, ebenso wie Mentorensysteme, in denen die Kenntnisse in Kleinstgruppen vermittelt werden. An dieser Stelle muss jeder selbst aktiv werden, sich über die Angebote in seiner Region informieren und überlegen, auf welche Weise er am liebsten lernen möchte. Planungsbüros bieten häufig auch Praktikumsplätze an. 

Beruflicher Hintergrund

Welche Ausbildung sollte ein Artenkenner idealerweise mitbringen? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Viele haben sich ihre Kenntnisse sogar in erster Linie selbst angeeignet. Ausbildung, Studium oder gar Promotion sind weit weniger wichtig als die Praxis. Und auch der Studiengang ist sekundär. Zwar denkt man vielleicht in erster Linie an Biologie.

Doch gibt es viele benachbarte Studiengänge, häufig an Fachhochschulen, die als gute Grundlage in Frage kommen – etwa Geoökologie, Ökologie oder Biodiversität. „Im Zweifelsfall nehme ich lieber den Geographen, der Zusatzkenntnisse und Freilanderfahrung mitbringt, als den Biologen, der keinen Bezug hat“, sagt Frobel. Ein fachbezogenes Studium schadet mit Sicherheit nicht.

Aber viele Artenkenner kommen aus dem Hobbybereich. Grundsätzlich sollten Interessierte keine Scheu haben, auch mal bei schlechtem Wetter draußen zu sein. Denn letztendlich ist die Erfahrung draußen durch nichts zu ersetzen. „Die Lust am Entdecken sollte man mitbringen“, sagt Frobel und ermuntert: „Es gibt noch dermaßen viel zu entdecken da draußen!“

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