"Wer immer Ja sagt, verliert den Respekt der anderen"
Der eigene Job ist eine Geschäftsbeziehung, sagt Karrierecoach Martin Wehrle. Deswegen sollten wir häufiger Nein sagen, damit uns nicht fremde Interessen auffressen. Drei Schritte sind dafür notwendig.
WILA Arbeitsmarkt: Warum trauen sich viele Menschen nicht, im Beruf auch mal Nein zu sagen?
Martin Wehrle: Viele Menschen fürchten, in Ungnade zu fallen. Sind sie beim Chef nicht unten durch, wenn Sie Nein zu Überstunden sagen? Oder wenn sie eine kurzfristige Dienstreise ablehnen? Dahinter steht ein Mechanismus, den wir aus der Kindheit kennen: Liebesentzug. Wenn das Kind nicht tut, was die Eltern sagen, sind sie böse mit ihm. Aber: Ein Arbeitsverhältnis ist eine Geschäftsbeziehung. Und wer klar Nein sagt, sichert sich den heimlichen Respekt der anderen - sofern er gute Arbeitsleistungen erbringt.
Gibt es Unterschiede im Verhalten von Männern und Frauen? Trauen sich Frauen seltener, Nein zu sagen als Männer?
Viele Frauen sagen öfter Ja, wenn Sie Nein sagen wollen. Sie haben als Mädchen gelernt, dass sie „brav“ sein und „keine Schwierigkeit machen“ sollen. Deshalb lassen sie sich oft Arbeit von männlichen Kollegen auf den Tisch delegieren. Oder sie springen ein, wenn jemand für den Chef die Kohlen aus dem Feuer holen soll.
Das Problem ist nur: Das Ja unterliegt dem Gesetz der Inflation. Wer immer Ja sagt, dessen Ja ist nichts mehr wert. Er verliert den Respekt der anderen und kann sich bis in die Erschöpfung arbeiten.
Warum ist es denn überhaupt wichtig, Bitten auch ablehnen zu können?
Wer jede Bitte anderer erfüllt, wird zu einer Marionette. Dann leben wir das Leben der anderen und fühlen uns wie in einem falschen Film. Das Wort „Nein“ ist ein Grenzpfeiler, den wir setzen müssen, um unser eigenes Leben zu schützen. Damit die Arbeit uns nicht wegspült. Damit fremde Interessen uns nicht auffressen. Ein erfülltes Arbeitsleben ist immer wie ein Fingerabdruck: individuell und einzigartig. Das Rezept: Tu möglichst viel von dem, was dich beglückt - und wenig von dem, was dir Energie raubt.
Und was passiert aus gesundheitlicher Sicht, wenn man sich nicht abgrenzen kann?
Das Arbeitsleben wird zu einem Fluss ohne Ufer, überschwemmt das Private und reißt die Gesundheit mit. Dann dringt die Arbeit per Smartphone bis ins Schlafzimmer oder in den Urlaub vor. Dann stehen Menschen unter Dauerstress, können nicht mehr abschalten und sind anfällig für Herz-Kreislauf-Krankheiten und psychische Probleme. Die Zahl der Burn-out-Fälle hat sich in nur sechs Jahren vervielfacht. Nur Abgrenzung kann verhindern, dass wir ein Volk der Ausgebrannten werden.
- Das Interview ist im Infodienst WILA Arbeitsmarkt erschienen. Jede Woche werden dort aktuelle Jobs zusammengefasst und nach Tätigkeitsgebieten sortiert - für die Bereiche Jobs in Bildung, Kultur und Sozialwesen und für die Bereiche Jobs in Umwelt und Natur.
Wie können Menschen das Neinsagen lernen?
Schritt eins: Wir müssen die eigenen Interessen mindestens so wichtig wie die der anderen nehmen. Nur wer auf sich selbst achtgibt, bleibt auf Dauer gesund und kann gute Arbeit leisten. Das ist im Interesse der Arbeitgeber.
Schritt zwei: Wir brauchen Techniken, um das beabsichtigte Nein auch durchzusetzen. Zum Beispiel ist es ratsam, auf Anfragen wie „Können Sie den Wochenenddienst übernehmen?“ nicht sofort zu antworten, sondern zu sagen: „Ich denke drüber nach und komme gleich auf Sie zu.“ Dann kann man sich innerlich aufstellen.
Und drittens müssen wir lernen, ein Nein auch zu verteidigen: Wer immer nachgibt, wird leicht über den Tisch gezogen.
Denken Sie, dass jeder Mensch das Neinsagen lernen kann?
Es liegt auf der Hand, dass wir alle das Ja-Sagen gelernt haben ? durch unsere Erziehung und durch den Glauben, mit einem Nein den anderen vor den Kopf zu stoßen. Und wenn es möglich ist, das Nein zu lernen, dann funktioniert es auch umgekehrt. Aber es gibt Voraussetzungen, und die wichtigste lautet: Man muss sich dafür entscheiden!
Oft wird ein Nein ausgesprochen, weil wir innerlich unklar sind. Dann nehmen wir Anforderungen von außen wichtiger als eigene Bedürfnisse. Aber wenn wir es wieder lernen, auf unsere innere Stimme zu hören, dann fällt uns ein „Nein“ viel leichter. Zumal wir mit dem Nein nicht nur uns selbst einen Gefallen tun, sondern auch dem anderen: Wir sind ehrlich ? statt zu heucheln.
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