Welche Menschen und welche Tätigkeiten rauben mir Zeit und Energie? Mit einem Stress-Tagebuch bekommt man den Überblick, rät Birgit Becker. Foto: © WavebreakMediaMicro / Fotolia.de

"Toller Job, perfekte Ehe, schickes Haus - ich halte das für eine Illusion"

Der berufliche Druck steigt - und der Anspruch an sich selbst auch. Die Folge: Stress pur. Birgit Becker erklärt, mit welchen Methoden wir wieder klarsehen und zur Ruhe kommen.

Die Frage aus der Leserschaft:

Seit mehreren Jahren steigt bei mir der berufliche und private Stress immer mehr an. Ich will etwas daran ändern. Sollte ich an meinem Zeitmanagement arbeiten?

Die Antwort von Karrierecoach Birgit Becker:

Mit Zeitmangement bekommen Sie zwar viele Aufgaben in den Griff. Aber Sie werden damit wahrscheinlich nicht die Ursachen für Ihren Stress klären.

Zuerst einmal eine grundsätzliche Bemerkung: In unserer Gesellschaft wird suggeriert, dass wir immer alles schaffen können – wenn wir uns nur gut genug organisieren. Alles scheint machbar: Ein toller Job, eine erfüllende Freizeit, eine perfekte Ehe, ein schickes Haus. Und dann auch noch ein stressfreies Leben. Ich halte das für eine Illusion.

Auch die Ansprüche in der Arbeitswelt steigen seit Jahren. Zugespitzt formuliert: Ihr Chef oder Ihre Chefin verlangt oft, dass Sie abends noch etwas erledigen, Sie selbst wollen immer qualitätsvolle Arbeit abliefern, und am Wochenende müssen auch noch E-Mails beantwortet werden. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Wenn Sie den Stress in den Griff bekommen wollen, dann arbeiten Sie besser an Ihrem Selbstmanagement. Sie brauchen wieder die Hoheit über sich selbst. Dazu gehört, dass Sie sich mit den grundsätzlichen Fragen im Leben auseinandersetzen. Wie wollen Sie überhaupt Ihr Leben gestalten? Was ist Ihnen wichtig? Was wollen Sie erreichen? 

Hier hilft ein kleines Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie feiern Ihren 70. Geburtstag. In einem festlich geschmückten Raum sitzen Ihre Familie, Freunde und ehemalige Lieblingskollegen. Was sollen die Gäste über Sie erzählen? Worüber würden Sie sich freuen? Worauf wären Sie stolz?

Jeder Mensch hat unterschiedliche Werte und Grundbedürfnisse. Manchen ist es wichtig, dass sie erfolgreich im Beruf werden und Prestige und Anerkennung bekommen. Andere wollen sich selbst verwirklichen und ihren Freiheitsdrang ausleben. Andere legen Ihren Schwerpunkt auf die Familie und sehen sich in der Verantwortung, dass ihr Nachwuchs eine gute Kindheit erlebt. Alle diese Grundbedürfnisse sind völlig in Ordnung. Nur haben sie eben auch alle ihren Preis.

"Wir müssen lernen, häufiger Nein zu sagen"

Eine weitere Technik, die ich im Coaching häufig anwende, ist das Tagebuch. Schreiben Sie detailliert auf, was Sie den Tag über machen. Schreiben Sie in einer weiteren Spalte daneben, wie Sie sich mit der jeweiligen Arbeit fühlen. Diese zweite Spalte ist sehr wichtig. Sie reflektieren automatisch, was Ihnen gut tut und was nicht. 

Ein solches Tagebuch sollten Sie 14 Tage lang führen. Danach beginnen Sie mit der Analyse. Sie werden merken, welche Tätigkeiten und welche Menschen Ihnen Zeit und Energie rauben. Das kann eine aufwändige Kommunikationsstruktur in Ihrem Unternehmen sein, ein bestimmter Kollege, aber auch ein Freund, der Sie immer mit dem gleichen Problem voll redet oder ein ständiger Streitpunkt mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin. Danach können Sie überlegen, wie Sie die negativen Situationen verringern können.

Ein solches Tagebuch kostet zwar viel Arbeit, öffnet aber oft die Augen. Die meisten Menschen können zwar aus dem Bauch heraus einige Stressfaktoren nennen, aber die wenigsten haben einen kompletten Überblick über alle großen und kleinen Stress-Situationen.

Auch die Haltung zum Stress spielt eine wichtige Rolle. Viele wachen morgens auf und denken direkt: Ich muss, ich muss, ich muss... Schon die Gedanken an sich bedeuten für das Gehirn pure Arbeit. Sie sind schon erschlagen, bevor Sie angefangen haben. 

Wenn Sie wieder eine neue Aufgabe auf den Tisch bekommen, obwohl Ihr Schreibtisch schon überquillt, sollten Sie überlegen, diese abzulehnen. Aber nicht auf eine empörte Art, sondern in Form eines konstruktiven Vorschlags. Argumentieren Sie gut und stellen Sie eine Alternativlösung vor, wie die Aufgabe geklärt werden kann oder auch verschoben werden kann. 

In der heutigen Arbeitswelt, aber auch im Privatleben setzen wir uns viel zu sehr selbst unter Druck. Wir müssen meiner Meinung nach lernen, häufiger „Nein“ zu sagen. Wir sollten uns auf einige wenige Dinge konzentrieren und diese richtig gut erledigen. Schließlich geht es auch um Qualität.

Zum Coach:

Birgit-Becker-CoachingBirgit Becker arbeitet mit Methoden, die aus der integrativen Gestaltarbeit, dem systemischen Coaching und der Kommunikationspsychologie stammen. Ihre Schwerpunkte sind unter anderem berufliche Identität, Work-Life-Balance und Selbstmanagement. Mehr Informationen zu unserem Coachingpartner-Programm.

Protokoll/Text: Benjamin O'Daniel 

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