Mythos MINT-Fachkräftemangel?
140.000 Studierende schlossen 2012 erfolgreich ein MINT-Studium ab. Foto/Copyright: © Kirill_M - Fotolia.com

Mythos MINT-Fachkräftemangel?

Angeblich fehlen Mitarbeiter in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Ein pauschaler Mangel herrscht aber nicht. Ein Blick in die Zahlen.

Von Katharina Hamacher

Das Schlagwort „MINT-Fachkräftemangel“ ist in aller Munde. Seit Jahren schlagen Verbände, Politiker und Medien Alarm, dass spätestens in einigen Jahren eine dramatische Lücke klaffen wird. „Fachkräftemangel in Deutschland nimmt weiter zu“, titelte der „Focus“ 2012 in Bezug auf MINT-Berufe, „Die Rente mit 63 verschärft den Fachkräftemangel“, schrieb die „Zeit“ vor einem halben Jahr.

Dass der demographische Wandel starken Einfluss auf den Arbeitsmarkt hat, ist hinreichend bekannt. In den kommenden zehn Jahren werden die geburtenstarken Jahrgänge, die heute Mitte Fünfzig sind, in Rente gehen. Gleichzeitig rückt zu wenig Nachwuchs nach, der zudem weniger in Ausbildungsberufe strebt als die vorigen Generationen. Gerne werden MINT-Berufe als Garant für hervorragende Karriereaussichten bejubelt.

„Ein genereller Mangel im MINT-Bereich liegt derzeit nicht vor“

Das Problem dabei ist allerdings: Ein pauschaler Mangel an MINT-Fachkräften existiert nicht. Nennenswerte Lücken gibt es lediglich in den Bereichen Informatik  (I) und Technik (T), und das größtenteils bei Nicht-Akademikern. Bei Mathematikern und Naturwissenschaftlern hingegen ist der Frust beim Durchforsten der Stellenangebote oft groß. Chemikern zum Beispiel werden bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zugeschrieben als etwa Biologen oder Geologen. Doch auch in den Fachgebieten der Chemie verzeichnet die Bundesagentur für Arbeit bei den Experten (Qualifizierte mit Masterabschluss) 2013 einen Rückgang von 14 Prozent der gemeldeten Arbeitsstellen im Vergleich zum Vorjahr. Bei den Experten der Biologie, Geologie und Geografie ist ein Rückgang von neun Prozent verzeichnet.

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„Ein genereller Mangel im MINT-Bereich liegt derzeit nicht vor“, stellt auch die Bundesagentur für Arbeit in ihrer aktuellen Arbeitsmarktanalyse zu MINT-Berufen fest. Lediglich in einzelnen technischen Berufsfeldern im akademischen wie nichtakademischen Bereich zeigt sich akuter Bedarf. Betroffen sind Ingenieure der Maschinen- und Fahrzeugtechnik oder der Elektrotechnik, bei Fachkräften, Spezialisten und Experten der Mechatronik und Automatisierungstechnik oder bei Fachkräften und Spezialisten im Bereich Klempnerei, Sanitär, Heizung und Klimatechnik. Auch bei den hochqualifizierten akademischen IT-Fachkräften sei aktuell ein Mangel erkennbar. 

Insgesamt knapp 355.000 im MINT-Bereich ausgebildete Menschen waren 2013 arbeitslos gemeldet. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Arbeitslosigkeit insgesamt um acht Prozent gestiegen, wobei die akademischen MINT-Kräfte mit einem Plus von 14 Prozent den größten Anstieg verzeichneten. Im Vorjahr übten rund 7,3 Millionen Menschen einen Beruf im MINT-Bereich aus, die größte Gruppe bildeten dabei nichtakademische technische Fachkräfte. 86 Prozent aller MINT-Fachleute waren in technischen Berufen tätig.

Nur jeder Elfte arbeitete im Bereich Informatik und Softwareentwicklung, lediglich jeder 20. im Bereich Naturwissenschaften und Mathematik. Knapp ein Drittel aller gemeldeten offenen Stellen fallen in den MINT-Bereich, knapp Dreiviertel davon richtete sich an nichtakademische Fachkräfte. Neun von zehn Angeboten sprechen Technikfachleute an, sieben Prozent ITler und nur zwei Prozent Mathematiker und Naturwissenschaftler.

Trotz des Anstiegs arbeitsloser MINT-Fachleute bewegt sich die Arbeitslosigkeit laut der Bundesagentur für Arbeit nach wie vor auf niedrigem Niveau. Mit 4,2 Prozent liegt sie deutlich unter der vergleichbaren Quote außerhalb des MINT-Bereichs, die 6,1 Prozent beträgt. Die Zahl der arbeitslosen MINT-Kräfte mit Hochschulabschluss sei vergleichbar mit dem Stand von 2009. Trotz eines leichten Anstiegs bewertet die Arbeitsmarktanalyse diese Entwicklung als positiv, denn von 2009 bis 2013 ist die Zahl der versicherungspflichtig beschäftigten Akademiker um mehr als ein Drittel gestiegen. Da diese Zahl allerdings nicht zwischen Vollzeit- und Teilzeitstellen differenziert, handelt es sich hierbei nur um eine vordergründig positive Entwicklung. 

140.000 Studierende schlossen 2012 erfolgreich ein MINT-Studium ab, das sind acht Prozent mehr als im Vorjahr. Damit setzt sich der Trend steigender Absolventenzahlen seit 2003 kontinuierlich fort, teilt die Arbeitsagentur mit. Auch künftig werde die Zahl akademischer Nachwuchskräfte stark ansteigen, denn das Interesse an MINT-Studiengängen habe – ablesbar an stetig wachsenden Erstsemesterjahrgängen – zugenommen. Trotzdem ist die Studienabbruchquote im MINT-Bereich überdurchschnittlich hoch. Nach Untersuchungen der Hochschul-Informations-System GmbH (HIS) beendete 2010 fast die Hälfte der Bachelorstudierenden an Universitäten ihr Ingenieurstudium nicht, an den Fachhochschulen brach fast jeder Dritte ab. In den Naturwissenschaften lag die Misserfolgsquote an Universitäten bei 39 Prozent und an Fachhochschulen bei 30 Prozent. 

Überwiegend beruflich Qualifizierte gesucht

Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) beobachtet ein wachsendes Interesse des Nachwuchses. Dr. Irene Seling, stellvertretende Abteilungsleiterin für den Bereich Bildung, Berufliche Bildung bei der BDA, sagt: „Es wird eine deutliche Entlastung auf dem MINT-Akademikermarkt geben, weil mehr Absolventen auf den Markt strömen werden.“ Der akademische MINT-Bereich verändere sich durch die hohen Studienanfängerzahlen: „Von 2005 bis 2013 ist der Anteil von Studienabsolventen in den MINT-Fächern von 31 auf 35 Prozent gestiegen“, betont Seling. Anders sieht es bei den Nicht-Akademikern aus: Die Erhebung der BDA zur MINT-Fachkräftelücke zeigt einen zunehmenden Mangel an Kräften mit beruflicher Qualifikation. Bis 2020 werde die Lücke in diesem Bereich von heute etwa 85.000 auf 1,3 Millionen ansteigen.

Ein wichtiger Faktor für die Nachfrage sei der demographische Wandel: „In den kommenden Jahren gehen viele Fachkräfte der geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand. Die abschlagsfreie Rente mit 63 wird besonders auf der Facharbeiterebene zu einer sinkenden Zahl von Arbeitskräften in den Unternehmen führen.“ Dr. Irene Seling beobachtet, dass viele Unternehmen mit „perspektivischem Denken“ auf den demographischen Wandel reagieren und bereits jetzt mehr Nachwuchskräfte einstellen als aktuell benötigt werden. „So beugen die Unternehmen dem zu erwartenden Mangel vor: Sie nehmen lieber eine Doppelbesetzung in Kauf als in einigen Jahren zu wenige Fachkräfte aufweisen zu können.“ Zudem können die erfahrenen Mitarbeiter den Nachwuchs entsprechend fördern, bevor sie altersbedingt aus den Unternehmen ausscheiden.

Die Botschaft der Arbeitgeberverbände an junge Menschen lautet ganz klar, sich über die Chancen einer MINT-Ausbildung gut zu informieren: „Besonders im Bereich Maschinenbau, Elektrotechnik und Informatik werden weiterhin Fachkräfte fehlen“, sagt Dr. Irene Seling. „Biologen und Chemiker werden auch künftig nicht so stark nachgefragt werden.“ Gerade in den Bereichen Informatik und Technik sei eine Ausbildung oft lohnenswert. „Hier sind die Löhne in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen; dies könnte sich auch zukünftig so fortsetzen.“

Studierenden empfiehlt die Bildungsexpertin, nach dem Bachelorabschluss zunächst Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt zu sammeln und nach einigen Jahren gegebenenfalls aufzusatteln. „Ein Maschinenbauingenieur zum Beispiel, der nach dem Bachelor in einen Automobilkonzern geht, kann nach drei, vier Jahren seine Kenntnisse in den Bereichen Projektbetreuung, Budgetverwaltung und Mitarbeiterführung im Rahmen eines BWL-Studiums ergänzen.“

Von den Hochschulen wünscht sich die Expertin für berufliche Bildung, dass sie den Arbeitsmarkt weiterhin fest im Blick haben und die Studierenden entsprechend vorbereiten. Dafür sei eine enge Kooperation mit den Unternehmen erforderlich. „Die Unternehmen engagieren sich sehr umfassend in vielen Kooperationen mit Hochschulen und machen klar, wo Bedarf herrscht und wo sich gute berufliche Entwicklungsmöglichkeiten bieten.“ Gerade kleinen und mittelständischen Unternehmen ist zu empfehlen, sich intensiv Gedanken darüber machen, wie sie künftig Fachkräfte rekrutieren können. Auch hier biete sich eine Zusammenarbeit mit den Hochschulen an.

Dass manche Unternehmen Berufsanfängern zu wenig Chancen geben, um direkt nach dem Studium Berufserfahrung zu sammeln, beobachten die Arbeitgeberverbände nicht: „Den Unternehmen ist absolut klar, dass Bachelor-Absolventen nicht so ein breites Wissen haben wie früher die Diplom-Absolventen“, sagt Dr. Irene Seling. „Im Job erwerben die Berufseinsteiger dann selbstverständlich weitere Kompetenzen.“

Hohe Vakanzzeiten bei MINT-Berufen

Andere Stimmen wie die Karriereberaterin Svenja Hofert kritisieren, dass die Unternehmen den „Mythos MINT-Fachkräftemangel“ aus Eigennutz am Leben halten. Sicher lässt sich nicht abstreiten, dass die Situation der Arbeitgeber umso komfortabler wird, je mehr qualifizierte Fachkräfte auf den Arbeitsmarkt strömen.

Dass sich gerade im MINT-Bereich viele Unternehmen deutlich Zeit lassen, um die ausgeschriebenen Stellen nur mit den optimalen Kandidaten zu besetzen, belegen die Vakanzzeiten, die die Bundesagentur für Arbeit in ihrer aktuellen Arbeitsmarktanalyse zu MINT-Berufen veröffentlicht. Demnach ist der Zeitraum vom gewünschten Besetzungstermin bis zur Abmeldung einer Stelle bei der Arbeitsagentur bei MINT-Berufen mit durchschnittlich 100 Tagen deutlich länger als bei allen anderen Berufen. 2013 lag die Vakanzzeit im MINT-Bereich im Schnitt 20 Prozent über dem allgemeinen Durchschnitt. Gegenüber dem Jahr 2011 ist der Zeitraum im MINT-Bereich um 23 Tage gestiegen. Bei nichtakademischen Fachkräften betrug die Vakanzzeit im Vorjahr 97 Tage, bei MINT-Spezialisten 104 und bei Experten 111.

Die im Vergleich zu anderen Berufsgruppen erhöhten Vakanzzeiten im MINT-Bereich zeigen, dass es nicht einfach ist, die passenden Kräfte zu finden, sagt Prof. Dr. Axel Plünnecke, Leiter des Kompetenzfeldes Humankapital und Innovation beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V. „Ein Ingenieur mit bestimmten Kenntnissen etwa in der Fertigungstechnik ist eben nicht so leicht zu finden wie ein Betriebswirt.“ Der Experte betont, dass der Fachkräfteengpass im MINT-Bereich vor allem Ingenieure und Informatiker betrifft, obwohl beide Berufsgruppen in den vergangenen Jahren ein starkes Wachstum verzeichnet hätten. Das liege vor allem daran, dass ältere Fachkräfte länger im Beruf bleiben und zudem qualifizierte Zuwanderer zu einem stärkeren Beschäftigungswachstum beitragen.

Während gerade bei Ingenieuren und Informatikern der Anteil der MINT-Akademiker ansteige, seien bis zum Jahr 2020 deutliche Engpässe bei beruflich Qualifizierten zu erwarten. „Dieser Bereich macht uns mehr Sorgen als die Akademiker, da das Interesse junger Leute an einer Ausbildung in den letzten Jahren rückläufig war“, sagt Prof. Dr. Axel Plünnecke. Trotz steigender Absolventenzahlen bleibe jedoch auch die Lage auf dem MINT-Akademiker-Markt angespannt. Generell sei Deutschland im Bereich der MINT-Qualifikationen stark aufgestellt. „Besonders Maschinen- und Fahrzeugbau sowie Elektrotechnik und Chemie sind sehr export- und innovationsstarke Branchen“, sagt Plünnecke. Bei den Unternehmen beobachte er überwiegend eine große Bereitschaft, junge Berufsanfänger einzustellen – auch, wenn Absolventen oft einen gegenteiligen Eindruck haben dürften. „Gerade Ingenieure kommen nach dem Studium in der Regel schnell unter.“

Durch Weiterbildung punkten

Doch auch wenn Naturwissenschaftler kaum von dem Fachkräftemangel betroffen sind, können sie die Lücken in den MINT-Segmenten Informatik und Technik für sich nutzen. Eine Weiterbildung in den Bereichen Informatik und Technik erachtet der Wirtschaftsexperte generell als sinnvoll. Bei Biologen etwa sei es ratsam, die Schnittstellen zwischen ihrem Fachgebiet und der Informatik zu vertiefen.

Die einzelnen Verbände informieren über entsprechende Möglichkeiten. „Die Digitalisierung wird zunehmend fortschreiten und immer mehr Bereiche betreffen. Entsprechende Kenntnisse erhöhen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt“, betont Plünnecke. Generell verzeichnet das Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V. bei Naturwissenschaftlern eine große Nähe zu IT-Themen. Viele Fachkräfte würden ihre Digitalkenntnisse in der Wissenschaft bereits vertiefen. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände rät Naturwissenschaftlern, sich über Weiterbildungsmöglichkeiten etwa im Bereich Umwelttechnik zu informieren, in Form eines (berufsbegleitenden) Masterstudiengangs oder durch Zusatzzertifikate. „Generell gilt: Überall dort, wo technische Kompetenzen über pures naturwissenschaftliches Wissen hinausgehen, erhöhen sich die Jobchancen im MINT-Bereich“, sagt Dr. Irene Seling.

Um beispielsweise für Biologen die Chancen auf dem MINT-Arbeitsmarkt zu erhöhen, bietet es sich an, zusätzliche Kenntnisse im IT-Bereich zu erwerben. Das können Qualifikationen im Projektmanagement, bei der Gestaltung von Webseiten oder auch im Bereich Bioinformatik sein, sagt Dr. Kerstin Elbing vom Verband für Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin (VBIO). Dabei geht es nicht darum, direkt mit IT-Fachleuten oder Bioinformatikern zu konkurrieren, sondern je nach Interessengebieten Kenntnisse aufzustocken. „Auch im medizinischen Bereich sind Informatik-Kenntnisse gefragt, etwa bei modernen bildgebenden Techniken. Da ergeben sich oft Schnittstellen zwischen Informatik und Biowissenschaften bzw. Biomedizin“, sagt Elbing. Hochschulen und private Akademien bieten entsprechende Kurse an.

Neben den Verbänden und der Arbeitsagentur können auch unabhängige und teilweise kostenlose Bildungsberater einen Überblick über die Möglichkeiten schaffen, die im Internet oder über die lokalen Industrie- und Handelskammern zu finden sind. Eine sinnvolle Investition ist oft der Besuch bei einem qualifizierten Coach, der den Arbeitsmarkt kennt und in der persönlichen Beratung die Interessen klar herausfiltern kann.

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