Oh, ein Vogel!
Mit diesem Spruch wird häufig über die Konzentrationsschwierigkeiten von Menschen mit ADHS oder ADS gewitzelt. Für Fachkräfte kann die Störung allerdings zu Problemen im Job führen. Ein Psychologe mit ADHS spricht über Strategien und Tipps für ein gelungenes Berufsleben.
Text: Anja Schreiber
Erwachsene mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) stehen im Beruf häufig vor besonderen Herausforderungen. Das Gleiche gilt für Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne Hyperaktivität (ADS). Das weiß auch der Psychologe Dr. Johannes Streif nur zu gut – und zwar nicht nur als stellvertretender Vorsitzender des Vereins „ADHS Deutschland“, sondern als auch Betroffener. „Die ADHS wurde erst in meinem Germanistik- und Philosophie-Studium zum Problem. Damals hatte ich allerdings noch keine Diagnose. An der Uni gab es wenig Vorgaben und das überforderte mich total. Denn wie alle Betroffenen habe ich große Schwierigkeiten mit der Selbstorganisation“, berichtet der 1968 geborene Psychologe und promovierte Germanist.
Johannes Streif ist seit 2002 selbstständig und arbeitet vornehmlich als Gerichtssachverständiger sowie in der Fortbildungsarbeit. Lange Zeit war er sich der ADHS gar nicht bewusst. Erst im Zuge eines Praktikums in einer psychiatrischen Klinik in den USA verstand er, dass eine ADHS der Auslöser für seine praktischen Alltagsprobleme sein könnte. „Ich erkannte, dass mich die gleichen Probleme und Themen umtrieben wie die ADHS-Patienten.“
Erfolgreich mit ADHS und ADS
Laut „ADHS Deutschland“ haben in Deutschland etwa fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von drei bis 17 Jahren die Störung. Bei etwa 60 Prozent von ihnen bleiben wesentliche Symptome der ADHS auch im Erwachsenenalter bestehen. Das können Beeinträchtigungen in verschiedenen Feldern sein, die auch für den Beruf relevant sein können. Im Wahrnehmungsbereich gehören dazu neben der Schwierigkeit, planvoll zu handeln, auch Symptome wie leichte Ablenkbarkeit und mangelndes Durchhaltevermögen. „Das zeigt sich zum Beispiel bei Teambesprechungen, in denen sich Betroffene schnell von störenden Geräuschen ablenken lassen“, erklärt Johannes Streif. In der Sozialisation wirkt sich die Störung ebenfalls aus. So kommt es zu impulsivem Handeln ohne vorheriges Nachdenken. Meist handelt es sich dabei um eine Reaktion auf Umweltreize. Auch mangelnde Selbststeuerungsfähigkeit und eine zu niedrige Frustrationstoleranz zählen zu den Auswirkungen.
Ein weiteres Symptom kann zum Beispiel ein schnelles psychisches und physisches Ermüden sein. Gehäuft treten im Erwachsenenalter auch Ängste und Depressionen auf. Außerdem gibt es in der Motorik Auffälligkeiten wie zum Beispiel die „Zappeligkeit“. Johannes Streif kennt das: „Bei meiner ersten Stelle als Psychologe habe ich in den Morgenrunden immer auf meinem Stuhl gekippelt und mich an einen verglasten Bücherschrank angelehnt. Als Reaktion auf eine aus meiner Sicht falsche Aussage eines Kollegen habe ich heftig den Kopf geschüttelt und dabei fast die Glasscheibe des Bücherschranks eingeschlagen. Das hat die Kollegen und Kolleginnen ganz schön erschreckt.“
Bei der ADHS/ADS handelt es sich nach aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis wahrscheinlich um eine Regulationsstörung im Frontalhirn. Die Ausschüttung und Aufnahme von sogenannten Neurotransmittern wie etwa Dopamin und Noradrenalin ist bei den Betroffenen nicht im Gleichgewicht. Johannes Streif vergleicht die ADHS mit einem Auto, das zwar ein Gaspedal, aber keine Bremse hat. Die Beschleunigung ist gut und das Auto wird auch langsamer, wenn man vom Gas geht. Menschen mit ADHS könnten aber ihre Reaktionen nicht willentlich abbremsen und stoppen. Dennoch sieht Johannes Streif ADHS und ADS nicht als Krankheit, sondern als „neurophysiologische Disposition“. ADHS und ADS sind nicht heilbar, aber Menschen mit der Störung können lernen, mit ihr zu leben und zu arbeiten.
ADHS und ADS im Berufsleben meistern
Um gut mit ADHS und ADS im Privaten wie auch im Arbeitsleben umgehen zu können, ist Wissen über das Störungsbild ganz entscheidend. „Wer seine Diagnose kennt, ist klar im Vorteil“, betont Johannes Streif. Denn so ist es möglich, Symptome zuzuordnen und Strategien zu entwickeln, die einen guten Umgang mit ihnen und eine darauf abgestimmte Selbstfürsorge möglich machen. Ein wichtiger Bereich sind die Organisation und das Zeitmanagement. Auch für Johannes Streif war und ist Selbstorganisation bis heute ein Thema: „Während meiner Festanstellung habe ich viele therapeutische Gespräche geführt. Da habe ich oft die Zeit überzogen.“ So sei es häufig zu Wartezeiten für die nachfolgenden Patient*innen gekommen.
Der Psychologe weiß aber auch, dass Menschen mit ADHS oder ADS ihr Zeitmanagement verbessern können. So empfiehlt er zum Beispiel die Verwendung von Zeitplänen und Kalendern: „Betroffene sollten in ihrem Smartphone alle Termine eintragen und dafür sorgen, dass das Handy piepst, um sie an ihre Termine zu erinnern:“ Hilfreich sei es auch, sich klar definierte und erreichbare Ziele zu setzen und große Aufgaben in möglichst kleine Schritte zu unterteilen: „Für Betroffene ist es entlastend, in einem gut strukturierten Rahmen zu arbeiten, der Aufgaben vorgibt, aber auch Freiheiten wie flexible Arbeitszeiten zulässt.“
Für Arbeitnehmer*innen mit ADHS oder ADS bekommt die Pausengestaltung eine besondere Bedeutung. Es empfehlt sich viele häufige und regelmäßige Pausen zu machen. Hilfreich ist zudem eine an die ADHS/ADS angepasste Arbeitsumgebung. Dazu gehören zum Beispiel entweder ein ruhiger Arbeitsbereich oder gegebenenfalls der bewusste Einsatz von Musik beziehungsweise Geräuschen wie weißes Rauschen. Das übertönt die Störfaktoren und sorgt für eine Geräuschkulisse, in der es sich besser konzentrieren lässt. Auch Noise-Cancelling-Kopfhörer verrichten hier einen guten Dienst. Als Büromöbel empfiehlt Johannes Streif, einen einfachen und zugleich schweren Holzstuhl ohne Rollen und einen höhenverstellbaren Schreibtisch.
Auch wenn der konstruktive Umgang mit Stress und Überforderung für alle Berufstätigen sinnvoll ist, gilt das in einem besonderen Maße für Fachkräfte mit ADHS oder ADS. Denn im Vergleich zu Kolleg*innen ohne diese Störung ist es je nach Ausprägung möglich, dass sie schneller an ihre physischen und psychischen Grenzen kommen. Vor diesem Hintergrund empfiehlt „ADHS Deutschland“, Techniken zu erlernen und anzuwenden, mit denen sich Stress bewältigen lässt. Dazu zählen beispielsweise Atemübungen, Meditation und Sport. „Entscheidend ist bei der Wahl der Entspannung, dass sie dem Betroffenen Spaß macht und nicht ständig zwischen Anspannung und Entspannung wechselt. So ist Progressive Muskelentspannung nach Jacobson für die meisten ADHS-Betroffenen eher kontraproduktiv“, so Johannes Streif.
Außer einer gewissen Eigeninitiative kann professionelle Hilfe dabei unterstützen, mit den Symptomen im Alltag umzugehen. Neben Beratung oder Coaching rät Johannes Streif zum Beispiel zur Teilnahme an Selbsthilfegruppen sowie zur Lektüre im Internet oder in Büchern. „Allerdings sollte niemand erwarten, dass dadurch alle Probleme gelöst werden“, betont der Psychologe. Gespräche mit vertrauten Menschen können ebenfalls helfen: „Wer schnell bereit ist, impulsive Entscheidungen zu treffen – wie beispielsweise nach Ärger mit dem Chef sogleich den Job zu kündigen – braucht jemanden, der nicht so impulsiv ist und mit dem er offen über alle Probleme reden kann.“
Im Team arbeiten mit ADHS und ADS
Vom generellen Informieren des Teams oder der Vorgesetzten über die eigene ADHS- oder ADS-Diagnose hält Johannes Streif wenig: „Zwar ist das Team am Anfang oft verständnisvoll, aber wenn der Betroffene nicht das leistet, was er leisten soll, sinkt das Verständnis dann dennoch.“ Und das sei auch nachvollziehbar: „Ich bin der Meinung, dass auch jemand mit ADHS- oder ADS-Diagnose das im Beruf leisten muss, für das er eingestellt wurde. Das ist wie beim Notarzt, der muss auch Blut sehen können.“ Vor diesem Hintergrund ist eine entscheidende Stellschraube für ein erfolgreiches und zufriedenstellendes Berufsleben für Fachkräfte mit ADHS oder ADS die passende Berufswahl. „Grundsätzlich sollten die Jobs abwechslungsreich sein und Kreativität ermöglichen. Ein Job als Steuerprüfer oder Verwaltungsbeamter hätte zum Beispiel nicht zu mir gepasst“, erklärt Johannes Streif. Das Berufsfeld sollte natürlich den persönlichen Stärken und individuellen Neigungen entsprechen und Spaß machen. Spezielle Begabungen sieht der Psychologe bei Menschen mit ADHS oder ADS nicht. „Es ist zwar oft davon die Rede, dass Betroffene besonders kreativ seien. Aber ich persönlich glaube das nicht. Sie leben nur häufiger ihre Kreativität aus, weil sie impulsiver sind und sich weniger selbst zensieren als Menschen ohne ADHS.“
Aktuell sieht Johannes Streif für Fachkräfte mit ADHS/ADS eine günstige Situation auf dem Arbeitsmarkt und damit gute Voraussetzungen, um eine effektive Selbstfürsorge zu betreiben: „Der Fachkräftemangel macht das möglich. Er sorgt dafür, dass es am Arbeitsplatz eine größere Toleranz gibt und die Bereitschaft gewachsen ist, sich an die Bedürfnisse der Beschäftigten anzupassen “ Und er hat noch einen weiteren Selbstfürsorgetipp parat: „Es ist gut, wenn sich Betroffene nicht nur auf den Beruf konzentrieren, sondern daneben auch noch ein Hobby oder ein Projekt haben, das sie ausfüllt und ihnen Spaß macht.“