Mensch und Expert*in sein
Ob sexueller Übergriff, ein Überfall oder ein Einbruch: Wie Menschen mit diesen Erfahrungen umgehen, ist äußerst individuell. Sie genau dort abzuholen, über ihre Rechte und Möglichkeiten aufzuklären, ist Aufgabe sogenannter Opferberater*innen.
Text: Anja Schreiber
Immer wieder machen Betroffene von Gewalt- und Sexualstraftaten die Erfahrung, mit den Erlebnissen allein gelassen zu werden. Umso wichtiger ist professionelle Hilfe, die diese Menschen bei der Verarbeitung der erlittenen Gewalterfahrung unterstützt, ihnen bei der Suche nach Therapien hilft und sie zum Beispiel während eines Gerichtsprozesses professionell begleitet – Aufgaben, die von sogenannten Opferberater*innen übernommen werden können. Welche Tätigkeiten in dieses Berufsfeld fallen und welche Qualifikationen dafür notwendig sind, verrät ein Blick auf verschiedene Stellenausschreibungen.
Im vergangenen Jahr suchte zum Beispiel der Miteinander e.V. in Magdeburg einen oder eine Berater*in für die „mobile Opferberatung“. Der Verein unterstützt Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Zu den Aufgaben dieser Stelle zählten die „(aufsuchende) Beratung von Betroffenen rechter, rassistischer, antisemitischer, LGBTIQ*-feindlicher sowie sozialdarwinistischer Gewalt und gemeinsame Erarbeitung von Empowermentstrategien“. Die Recherche zu Vorfällen mit rechten, rassistischen und antisemitischen Hintergründen gehörte ebenfalls zum Aufgabenbereich. Auch Begleitung und Beistand in juristischen Zusammenhängen kann in den Verantwortungsbereich von Fachkräften in diesem Bereich fallen, wie ein Stellengesuch des Informations- und Dokumentrationszentrum für Antirassismusarbeit (IDA) aus Düsseldorf anführte. Weiterhin zu den Aufgaben zählte hier auch die Begleitung zu Behörden und die „Vermittlung ärztlicher oder therapeutischer Hilfe“. In beiden Ausschreibungen kommen im Stellenprofil noch fallbezogene Öffentlichkeitsarbeit, Falldokumentation sowie Gremien- und Netzwerkarbeit hinzu.
Vertrauen zu Hilfesuchenden aufbauen
Der Diplom-Pädagoge Andreas Edhofer kennt als Geschäftsführer des Opferhilfe Sachsen e.V. den Arbeitsalltag dieser Fachkräfte genau: „Unsere Opferberaterinnen und Opferberater begleiten und unterstützen die Menschen, die zu uns kommen, auf Augenhöhe.“ Andreas Edhofer, der zugleich einer der Sprecher des Arbeitskreises der Opferhilfen in Deutschland ist, fügt hinzu: „In den Beratungsgesprächen finden unsere Mitarbeitenden erst einmal heraus, wo genau die Alltagsbelastungen für die Betroffenen liegen und wie wir sie unterstützen können.“ Denn die Problemlagen können unterschiedlich sein. Nicht jede*r Ratsuchende will Anzeige erstatten und sucht Unterstützung beim Gang zur Polizei oder zum Prozess. Manche wissen gar nicht, ob sie überhaupt eine Gewalttat melden wollen. Deshalb klären die Opferberater*innen die Betroffenen zunächst über ihre Rechte, aber auch über polizeiliche und juristische Abläufe auf. „Unser Ziel ist es, dass unsere Klient*innen selbst entscheiden, was für sie passt und was sie brauchen.“ Bei Bedarf vermitteln die Berater*innen an weiterführende, spezialisierte Stellen, an Rechtsanwält*innen sowie an therapeutisches oder ärztliches Fachpersonal. Sie helfen auch bei der Beantragung finanzieller Ausgleichszahlungen.
„Wie lange der Kontakt zwischen unseren Fachberater*innen und den Klient*innen dauert, kann sehr unterschiedlich sein. Manchmal reichen wenige Sitzungen, manchmal geht es über Jahre, wenn zum Beispiel zu einem Berufungsprozess begleitet wird“, berichtet Andreas Edhofer. „In jedem Fall ist es uns aber wichtig, dass durch die Beratung keine Abhängigkeit entsteht. Wenn eine Begleitung länger als ein halbes Jahr dauert, prüfen wir deshalb, inwiefern unsere Unterstützung noch gebraucht wird.“ Andreas Edhofer verweist auch auf die Tatsache, dass manche Klient*innen nach Jahren wieder in der Beratung auftauchen, weil sie erneut Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sind. Neben der Beratung sind die Mitarbeiter*innen des Opferhilfe Sachsen e.V. auch in der Weiterbildung tätig: „Wir bieten Schulungen im Umgang mit Gewaltopfern zum Beispiel in Schulen, Kitas oder Jugendämtern an.“
Belastend, aber sinnstiftend
Andreas Edhofer betont, dass die Kolleg*innen eine schwere Arbeit leisten, die psychisch sehr belastend sei. „Denn in 50 bis 60 Prozent aller Fälle geht es um sexualisierte Gewaltstraftaten. Dazu kommt, dass wir im vergangenen Jahr 30 Prozent mehr Beratungen hatten als davor. Und auch in diesem Jahr haben wir bislang 20 Prozent mehr als im vergangenen Jahr.“ Den Grund dafür sieht er im veränderten gesellschaftlichen Bewusstsein. Betroffene trauten sich eher, Hilfsangebote aufzusuchen. „Angesichts dieser Lage ist unsere Arbeitsbelastung hoch.“ Deshalb spricht der Geschäftsführer des Opferhilfe Sachsen e.V. in jedem Vorstellungsgespräch das Thema Belastung und Selbstfürsorge offen an.
„Vor dem Hintergrund der hohen Belastung arbeiten unsere Berater*innen auch nicht in Vollzeit, sondern nur 30 bis 35 Stunden in der Woche“, erklärt Andreas Edhofer. Der Opferhilfe Sachsen e.V. tut viel für das Wohl seiner Mitarbeiter*innen: „Wir bieten Gruppen- und Einzelsupervision, Bildungstage und Zuschüsse für Weiterbildungen an.“ Mit all diesen Maßnahmen versucht der Verein, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Berater*innen nicht erkranken, sondern achtsam mit sich umgehen. Andreas Edhofer weiß aber auch, dass die Arbeit als Opferberater*in sehr sinnstiftend und erfüllend sein kann: „Für unsere Kolleg*innen ist es ein großer Erfolg, wenn sie Opfer von Gewaltverbrechen ermächtigen, ihren eigenen Weg zu gehen und sich für oder gegen eine Anzeige zu entscheiden.Und wenn sie wieder in der Lage sind, auf sich aufzupassen und selbstbewusst zu handeln.“ Um den anspruchsvollen Arbeitsbedingungen fachlich entsprechen zu können, ist Voraussetzung für die Tätigkeit als Opferberater*in ein einschlägiges Studium: „Bei uns arbeiten Menschen, die Soziale Arbeit, Sozialpädagogik oder Psychologie studiert haben“, berichtet Andreas Edhofer. Außerdem sind Zusatzqualifikationen zum Beispiel im Bereich der systemischen Beratung oder der traumapädagogischen Beratung erwünscht.
Auch für die offene Stelle für die mobile Opferberatung in Magdeburg wurde als Voraussetzung ein „abgeschlossenes Studium oder vergleichbare Qualifikation im Bereich der Sozialen Arbeit oder in einem verwandten Bereich“ genannt. Außerdem sollten Bewerber*innen Kenntnisse in Antirassismus, Antisemitismus, weitere Dimensionen rechter Gewalt und/oder psychosoziale Beratung und Trauma mitbringen. Erwartet wurden ebenfalls Team- und Konfliktfähigkeit sowie eine selbstständige und strukturierte Arbeitsweise. Zudem sollten Kandidat*innen über sehr gute mündliche und schriftliche Kenntnisse der deutschen Sprache sowie Kenntnisse in einer weiteren beratungsrelevanten Sprache verfügen. Erwünscht waren darüber hinaus einschlägige Berufs- und/oder Beratungserfahrung, die Vernetzung in lokalen Netzwerken und Strukturen sowie ein Führerschein. Das IDA veröffentliche ein ähnliches Anforderungsprofil in ihrer Ausschreibung.
Fach- und Spezialwissen nötig
Wer sich im Bereich der Opferberatung weiterqualifizieren möchte, kann zum Beispiel den berufsbegleitenden Zertifikatskurs „Professionelle Opferhilfe: Opferberatung und psychosoziale Prozessbegleitung“ an der Alice Salomon Hochschule in Berlin absolvieren. „Ich empfehle gerade jüngeren Mitarbeiter*innen diesen Kurs. In der Fortbildung werden pädagogisches, psychologisches, aber auch juristisches Wissen vertieft. Mit dem Zertifikat können sie das Opfer als beigeordnete Prozessbegleiter*innen unterstützen“, so Andreas Edhofer. Bei der Opferhilfe Sachsen e.V. haben elf Berater*innen diese spezielle Ausbildung erfolgreich abgeschlossen.
Wer als Opferberater*in arbeitet, ist meist bei Vereinen angestellt, die sich dem Thema widmen. „Die Situation der Opferberatungsstellen ist allerdings je nach Bundesland sehr unterschiedlich geregelt. So gibt es in manchen Ländern wie Bayern, Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen keine oder nur wenige professionelle Opferberatungen. In diesen Ländern übernimmt diese Arbeit oft der Verein Weißer Ring als ehrenamtliche Anlaufstelle. In Sachsen-Anhalt ist zum Beispiel auch der Soziale Dienst der Justiz für die Opferberatung zuständig“, berichtet Andreas Edhofer. Sein Wunsch ist die Stärkung der professionellen Opferberatungen in allen Bundesländern, damit überall Betroffene einer Straftat das traumatische Erlebnis möglichst ohne weitere Schädigungen und mithilfe von fachkompetenter Beratung und Begleitung verarbeiten können. Zudem können sie somit in einem etwaigen Strafprozess als stabile Zeug*innen zur Wahrheitsfindung beitragen.