Ihr Beruf? Ich bin in Rente
Nicht allen fällt es leicht, mit dem Arbeiten aufzuhören. Andere wiederum stellen dann als Rentner*in fest, dass auch der Ruhestand seine Tücken hat. Grund genug, sich schon vor dem Rentenbeginn auf diese neue Lebensphase vorzubereiten.
Text: Anja Schreiber
Das Thema Ruhestand wird in nächsten Jahren immer mehr Menschen betreffen. Denn die sogenannten Babyboomer – die zwischen 1957 und 1969 Geborenen – gehen in Rente. Laut dem Mikrozensus 2021 überschreiten bis 2036 insgesamt 12,9 Millionen Erwerbspersonen das Renteneintrittsalter. Bezogen auf das Jahr 2021 sind das knapp 30 Prozent der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen.
Schaut man sich die Bevölkerung zwischen 15 und 79 Jahren an, wird deutlich, dass die älteren Gruppen durchgehend mehr Erwerbspersonen umfassen als die jüngeren. Bei den Babyboomern handelt es sich um die zahlenmäßig stärksten Jahrgänge. Die Daten des Mikrozensus zeigen zudem, dass sich diese Altersgruppe schon in der Übergangsphase in den Ruhestand befindet. So lag die Erwerbsbeteiligung bei den 60- bis 64-Jährigen nur noch bei 63,6 Prozent. Die 50- bis 59-Jährigen waren dagegen noch mit einem Anteil von 86 Prozent auf dem Arbeitsmarkt aktiv.
Alle diese Menschen stehen in den nächsten 14 Jahren früher oder später vor der gleichen biografischen Veränderung: Sie erreichen das Rentenalter. Die Geburtsjahrgänge ab 1964 können mit 67 Jahren abschlagsfrei in den Ruhestand gehen. Wer etwas älter ist, bei dem steht der Renteneintritt dementsprechend früher an. Es gibt aber auch Ausnahmen von der Regelaltersgrenze mit 67 Jahren. Das gilt besonders für langfristig versicherte Arbeitnehmer*innen, die seit 45 Jahren in die Rentenversicherung einzahlten. Auch für Beschäftigte mit einer Schwerbehinderung ist ein früherer Ruhestand ohne Abschläge möglich.
Plötzlich Altersteilzeit
Doch nicht immer ist der Rentenbeginn oder die Altersteilzeit ein lang erwarteter oder geplanter Schritt. Manchmal kommt er auch unerwartet, wie bei Wolfgang Schiele aus dem brandenburgischen Bad Saarow. Er war viele Jahre als Ingenieur bei einem Energieversorgungsunternehmen tätig. „2008 teilte mir mein Arbeitgeber mit, dass bei ihm Rationalisierungen anstehen. Man wollte mich deshalb plötzlich in Altersteilzeit schicken“, berichtet Wolfgang Schiele. „Ich war damals stinksauer. Denn ich war gerade mal Ende 50. Mein Eintritt in die Altersteilzeit war also nicht selbst gewollt.“
Wolfgang Schiele entschied sich, noch einmal neu anzufangen: „Ich fühlte mich einfach noch zu fit für den Ruhestand, um den ganzen Tag im Garten zu arbeiten und Rosen zu züchten.“ Deshalb bereitete er sich ganz strategisch auf den Übergang in eine neue Berufsphase vor. So absolvierte er unter anderem eine Ausbildung zum Coach und zum Heilpraktiker für Psychotherapie. 2014 begann er seine Selbstständigkeit als (Vor-)Ruhestands- und Übergangscoach: „Das erste Geld, was ich verdiente, steckte ich sofort in meine Weiterbildung. Durch meine Rentenbezüge ist ja für meine Existenzsicherung bereits gesorgt.“
Arbeiten im Rentenalter
Der Coach Wolfgang Schiele ist nicht der einzige Ruheständler, der beruflich aktiv bleibt. Immer mehr Menschen arbeiten im Rentenalter. Waren laut Statistischem Bundesamt 2013 in Deutschland noch 13 Prozent der 65- bis 69-Jährigen berufstätig, lag ihr Anteil im Jahr 2022 bereits bei 19 Prozent – und damit deutlich über dem EU-Durchschnitt von 14 Prozent.
Die Gründe für eine Berufstätigkeit im Ruhestand sind vielfältig, viele Menschen haben jedoch non-monetäre Gründe. Sie möchten geistig fit bleiben und haben Spaß an der Sache. Der Austausch mit jungen Kolleg*innen ist ebenfalls ein Ansporn, um weiterzuarbeiten. Aber auch Altersarmut kann ein Grund für eine Berufstätigkeit jenseits des offiziellen Renteneintrittsalters sein. Eine Kombination aus finanziellen und nichtfinanziellen Gründen kann ebenfalls vorkommen.
Doch auch wenn die Zahl der arbeitenden Rentner*innen zunimmt: Die meisten gehen aktuell in den wirklichen Ruhestand. Für manche mag die Vorfreude auf die Rente groß sein, andere dagegen schauen getrübt auf den neuen Lebensabschnitt. „Meiner Erfahrung nach hat etwa ein Drittel der Rentner*innen Schwierigkeiten mit dem Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand“, berichtet Wolfgang Schiele.
Die Gründe dafür sind vielfältig: „Einige fühlen sich durch die Altersteilzeit rausgemobbt. Andere haben das Gefühl, dass ihnen ihre Identität wegbricht. Solche Menschen empfinden den Eintritt in den Ruhestand ähnlich wie einenTrauerfall in der nächsten Umgebung.“ Auch Menschen, die sich nicht so sehr mit ihrer Arbeit identifiziert haben, erleben einen Verlust: „Vielen fehlt in der Rente eine Tagesstruktur. Sie brauchen jemanden, der ihnen sagt, was sie tun sollen.“ Besser seien die dran, die sich selbst organisieren können.
Verlust von Bedeutung
Grundsätzlich warnt Wolfgang Schiele davor, die Schwierigkeiten, die der Rentenbeginn mit sich bringt, zu unterschätzen: „Berufstätige sollten sich vorab klar werden, dass sie durch den Ruhestand von einem Tag auf den anderen von 120 Prozent Leistung auf null Prozent herunterfahren.“ Das sei eine enorme Umstellung: „Außerdem müssen gerade Führungskräfte damit klarkommen, dass ihre Bedeutung verschwindet. Selbst wenn sie noch zum Unternehmen Kontakt halten, gehören sie nicht mehr zur In-Group, sondern zur Out-Group.“ Waren sie vorher an jeder wichtigen Entscheidung beteiligt, wurden sie überhäuft, mit Mails, Telefonaten und Nachrichten, wird es nun still um sie. „Auch wenn manche ihre Probleme damit herunterspielen, fallen doch einige in ein tiefes Loch.“
Zu Wolfgang Schiele kommen bislang nur männliche Fachkräfte ins Coaching: „Es scheint, dass es Männern sehr viel schwerer fällt, mit dem Bedeutungsverlust zurechtzukommen. Außerdem leiden sie ganz besonders darunter, dass sie durch ihren Ruhestand aus ihrem sozialen Netzwerk herauskatapultiert wurden.“ Für Frauen sei das meist ein geringeres Problem, da sie noch andere soziale Kontakte pflegen. Ein weiteres Problem ist, dass sich der Lebensmittelpunkt verschiebt. „Im Ruhestand sind die Menschen 24 Stunden am Tag zu Hause. Früher waren viele von ihnen viele Stunden am Tag im Unternehmen – manch eine Führungskraft 14 bis 16 Stunden.“ Diese Tatsache sei auch für die Partnerschaft eine Herausforderung.
Eineinhalb Jahre nach Eintritt in den Ruhestand kommt laut Wolfgang Schiele eine kritische Phase auf die neuen Rentner*innen zu: „In den ersten 18 Monaten erledigen viele erst einmal Dinge, für die sie sonst nie Zeit hatten. Sie räumen den Keller auf, renovieren die Wohnung oder machen Urlaub. Aber dann sind all diese kleinen Projekte erledigt. Dann stellt sich die Frage: Was nun?“
Tagesdosis an Bedeutung
Der Ruhestandscoach zitiert den Psychiater Klaus Dörner: „Jeder Mensch braucht seine Tagesdosis an Bedeutung für andere.“ Wolfgang Schiele ergänzt: „Deshalb sollten Menschen kurz vor dem Eintritt in den Ruhestand nach einer Aufgabe suchen, die mit ihrer früheren Bedeutung im Beruf vergleichbar ist.“ Ein paar kleine Projekte reichten meist nicht aus. „Die Aufgabe sollte schon herausfordernd sein wie zum Beispiel ein neues Musikinstrument zu lernen oder als Au-pair nach Australien zu gehen.“ Auch eine Selbstständigkeit sei eine Möglichkeit. Der Ruhestandscoach empfiehlt den künftigen Neu-Rentner*innen, ihre Vergangenheit zu reflektieren und sich mit ihren alten Wünschen und den Leerstellen ihres Lebens zu befassen. So fänden sie ihre neue Aufgabe.
Eine besondere Herausforderung sind auch die letzten Wochen im Job. Wolfgang Schiele rät, in dieser Phase des Übergangs ein Tagebuch zu führen und in ihm ganz bewusst diese Zeit – zum Beispiel die letzten zehn Tage – zu reflektieren. Er weiß, dass es in diesen Tagen besondere Situationen zu bewältigen gibt: „Ich musste zum Beispiel meine eigenen Daten vom Computer löschen. Das war schwierig, denn man löscht seine Identität.“ Dieses Prozedere sei in Firmen oft üblich und für viele ein Grund zu trauern. „In dieser Zeit ist es hilfreich, sich mit Menschen im Unternehmen oder ehemaligen Beschäftigten im Ruhestand auszutauschen.“ Natürlich sollten das Personen sein, denen man vertrauen und mit denen man offen sprechen könne.
Was auch immer aber für den letzten Arbeitstag von Unternehmens- oder Kolleg*innen-Seite geplant ist. Wolfgang Schiele rät, ein eigenes Abschlussritual zu vollziehen: „So ein Ritual ist natürlich höchst individuell. So könnte man zum Beispiel Luftballons in den Himmel steigen lassen oder die Route der Tour de France fahren. Hat man dieses Ritual beendet, ist es leichter loszulassen.“