Sachlich falsche Vorstellungen
Der Arbeitsmarkt ist von Vorurteilen geprägt, auch wenn es um die Arbeitsfähigkeit von Menschen mit MS geht. Die falschen Vorstellungen müssen sich ändern.

Sachlich falsche Vorstellungen

Multiple Sklerose zählt zu einer der häufigsten neurologischen Erkrankungen in Deutschland. Dennoch bestehen viele Vorurteile in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit von Menschen mit MS. Die Gemeinnützige Hertie-Stiftung setzt sich dafür ein, dass sich das ändert.

Interview: Stefanie Schweizer

Dr. Eva Koch ist Ärztin und leitet die Multiple-Sklerose-Projekte in der Hertie-Stiftung in Frankfurt. Foto: privat

WILA Arbeitsmarkt: Was ist Multiple Sklerose (MS)?
Dr. Eva Koch: MS gehört zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen des jungen Erwachsenenalters. In Deutschland leben rund 250.000 Menschen mit MS, zwei Drittel davon sind Frauen. Es handelt sich um eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, also des Gehirns und des Rückenmarks, die zu verschiedensten Symptomen führen kann. Man spricht auch von der Erkrankung der 1.000 Gesichter, weil der Verlauf äußerst individuell ist.

In welchen Branchen oder Arbeitsbereichen kommen Fachkräfte mit einer MS in der Regel unter?
Das hängt ganz davon ab, ob und wenn ja, zu welchen Einschränkungen die Erkrankung führt. Allein die Diagnose Multiple Sklerose schließt keine Branche aus.


 
„Diese Stigmatisierung stellt für viele Fachkräfte mit MS eine große Hürde dar.“
 

 

Welche Herausforderungen und Hürden bestehen aktuell auf dem Arbeitsmarkt für Fachkräfte mit MS?
Die größten Herausforderungen sind sicherlich die verschiedenen Vorurteile gegenüber Menschen, die mit einer chronischen Erkrankung leben. Bei einer MS glauben zum Beispiel viele, so auch in der Arbeitswelt, dass sie immer zu einer schweren Behinderung führt. Dies ist zum einen sachlich falsch, da viele Menschen mit einer MS weitgehend normal leben und auch arbeiten können. Zum anderen steckt in diesem Vorurteil, dass Menschen, die mit einer Behinderung leben, grundsätzlich weniger leistungsfähig sind. Auch dies ist nicht richtig. Diese Stigmatisierung stellt für viele Fachkräfte mit MS eine große Hürde dar.

Mit welchen Angeboten unterstützt die Hertie-Stiftung Fachkräfte mit einer MS?
Die Hertie-Stiftung richtet sich mit einer digitalen Awareness-Kampagne gezielt an Arbeitgeber*innen und Personalentscheider*innen und zeigt, wie eine inklusive Zusammenarbeit im Unternehmen gewinnbringend umgesetzt werden kann. Vertreter*innen namhafter Unternehmen, wie zum Beispiel die Deutsche Börse und L´Oréal, und Menschen, die mit einer MS leben und arbeiten, teilen in Interviews ihre persönlichen Erfahrungen.

Unterstützt und verbreitet wird die Kampagne unter anderem von der Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände und von der Bundesagentur für Arbeit. Die Stiftung möchte die Sichtbarkeit von Menschen, die mit einer chronischen Erkrankung wie zum Beispiel einer MS leben, im Arbeitsleben erhöhen, bessere Bedingungen für sie schaffen und so zu einer erfolgreichen Zusammenarbeit aller beitragen.


 
„Ich weiß, dass dies leicht gesagt, aber nicht jederzeit leicht umzusetzen ist – eine positive Gedankenarbeit muss man sich immer wieder aktiv vornehmen.“
 

 

Fachkräfte mit einer MS auf dem Arbeitsmarkt müssen sich nicht nur mit Hürden von außen auseinandersetzen, sondern auch mit eigenen Unsicherheiten, Selbstzweifeln und so weiter. Was können Fachkräfte mit einer MS tun, um sich ihrer Stärken als Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt bewusst zu werden?
Ich habe in den vergangenen Jahren viele Menschen getroffen, die mit MS leben. Für viele war die Diagnose MS zunächst ein Schock. Zugleich berichten viele, dass im Laufe der Zeit aus dem Schock, aus der Herausforderung, eine Stärke erwachsen ist. Diese erlebte Ausbildung einer Resilienz ist neben der für den Job erforderlichen Fachkompetenz eine große zusätzliche Fähigkeit, deren Kraft sich Menschen im Lebens- und Berufsalltag bewusst werden dürfen und sollten.

Wichtig ist auch, sich selbst immer wieder als Fachkraft anzusehen, deren Fähigkeiten gebraucht werden – ganz unabhängig von der Erkrankung. Ich weiß, dass dies leicht gesagt, aber nicht jederzeit leicht umzusetzen ist – eine positive Gedankenarbeit muss man sich immer wieder aktiv vornehmen. Sehr bedeutend sind eine gute Selbstfürsorge und ein stärkendes soziales Netzwerk, auch im Arbeitsumfeld.

Was können Arbeitgeber*innen tun, um Fachkräften mit einer MS den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern?
Es bedarf eines Bewusstseinswandels in den Unternehmen mit einer größeren Sichtbarkeit derer, die es bereits gut machen. Zum neuen Bewusstsein gehört die Entstigmatisierung von Menschen, die mit einer chronischen Erkrankung wie zum Beispiel einer MS leben, und die Konzentration auf die individuellen Fähigkeiten und Bedarfe. Viele kennen das Gefühl, im beruflichen Kontext plötzlich nur noch als eingeschränkter Mensch und nicht mehr als leistungsfähiger Mensch wahrgenommen zu werden. Hier können Arbeitgeber*innen ansetzen und eine neue Kultur der Offenheit, Empathie und Flexibilität gegenüber allen Mitarbeiter*innen schaffen.

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