Die Tücken der „Freiheit“
Sich selbst die Zeit frei einzuteilen, darf nicht heißen, auf Ruhezeiten zu verzichten. Vertrauens­arbeitszeit erfordert, dass man selbst klare Grenzen setzt. Foto: © blackday/Adobe Stock

Die Tücken der „Freiheit“

Vertrauensarbeitszeit geht nur mit mehr Lebensqualität einher, wenn Arbeitnehmer*innen ausreichend Selbstorganisation zeigen. Und Arbeitgeber*innen die Arbeitszeit lückenlos erfassen.

Text: Maria Köpf

Bei Anstalten öffentlichen Rechts scheint die Vertrauensarbeitszeit (VAZ) im Homeoffice gut zu funktionieren, weil Mehrarbeit häufig gut geschrieben und angeordnete Überstunden ausbezahlt werden. Doch die aktuelle Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) zeigt, dass selbst bei guten Vertrauensmodellen viele Beschäftigte Überstunden anhäufen – und längst nicht bei jedem Arbeitgeber Mehrarbeit erfasst wird.

Das Ergebnis der Auswertung vom Oktober 2021: „Beschäftigte, deren Arbeitszeit erfasst wird, berichten deutlich seltener über zeitliche Entgrenzung. Zudem verfügen sie über eine größere zeitliche Flexibilität.“ Der Studie zufolge wurde Mehrarbeit bei 8.400 abhängig Beschäftigten im Homeoffice nur zu 66 Prozent erfasst.

Ebenso wurde öfter über Pausenausfall, Überstunden, fehlende Zeitreserven, weniger Ruhezeit und schlechtere Work-Life-Balance geklagt. Das Credo der Bundesanstalt: Zeitkontrollen sind nur auf den ersten Blick der Feind der Arbeitnehmer*innen. Sie sind auch Chance für gesünderes Arbeiten.

In Deutschland sind rund 20 Prozent aller Erwerbstätigen nach dem Vertrauensmodell tätig. Im Betriebspanel des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit gab rund die Hälfte aus der Branche „Information und Kommunikation“ an, nach Vertrauensregelungen zu arbeiten. Überdurchschnittlich viele mit VAZ finden sich bei Interessenvertretungen, im Finanz- und Versicherungssektor oder im freiberuflichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich. 

Flexibel und doch unter Druck

Ein klarer Vorteil für Arbeitnehmer*innen mit VAZ ist die „Zeitsouveränität“. Es zählt nicht Anwesenheit, sondern die erledigte Aufgabe. Das ermöglicht höchste Freiheit und Flexibilität. Ruft der Kindergarten an, können Mitarbeiter*innen frei nehmen. Werden selbstbestimmte Arbeit und Homeoffice kombiniert, kommt das besonders Eltern zugute, um Job und Kinderbetreuung besser „unter einen Hut“ zu bringen. 

Zum Weiterlesen:
Fokus „Arbeitszeiterfassung und Flexibilität  – Ergebnisse der BAuA-Arbeitszeitbefragung 2019“ zum Download unter: www.baua.de/dok/8864868

Schnell kann jedoch die Belastung bei solchen Modellen Überhand nehmen. Gerade wenn Überstunden nicht erfasst werden, vernachlässigen sogenannte „Workaholics“ und Pflichtbewusste ihre Erholung. Das Modell „Vertrauensarbeitszeit“ zeigt sich mitnichten ideal, wenn es zur Verschleierung ausufernder Arbeitszeit dient. Zwar ergaben Studien, dass die Arbeitszufriedenheit von Vollzeitbeschäftigten bei diesem Modell steigt. Doch hohe Leistungsansprüche sind oft nur durch Überstunden zu bewältigen.  

Auf Kosten Beschäftigter

Gleichzeitig fehlt es am verlässlichen Rahmen: Wie viel Zeit veranschlagt ein Projekt tatsächlich? Und wie viele Überstunden sind erlaubt? Nicht nur das: In Ermangelung einer Zeiterfassung in manchen Firmen konnten „flexible“ Beschäftigte keinen Überstundenausgleich nehmen. Deswegen entschied der Europäische Gerichtshof im Frühjahr 2019, dass die Vertrauensarbeitszeit de facto abgeschafft wird – künftig soll Arbeitszeit unterwegs, im Büro und im Homeoffice lückenlos erfasst werden. 

Der Zeitrahmen, bis wann die EU-Länder ihr nationales Recht nachschärfen müssen, ist bislang zwar offen. Viele Arbeitgeber rüsten ihr Zeiterfassungssystem jedoch bereits nach. Und im nationalen Recht kann aus der EU-Zeiterfassung sogar ein besseres Modell werden. Wenn statt Höchstarbeit pro Tag nur noch Höchstarbeit pro Woche zählt und Ruhezeiten klar eingehalten werden. Arbeitserfassung ja, aber mit der Flexibilität des Vertrauensmodells. 

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