Umdenken
Selbstbestimmt leben – das Menschen mit Behinderung zu ermöglichen, kann Erfüllung bringen und einen durch die Corona-Krise helfen, vielleicht sogar mit neuen Perspektiven.

Umdenken

Gute Vorsätze gibt es viele, doch was sind sie wert, wenn nie etwas daraus wird? Krisen zeigen der Gesellschaft eindrücklich, wann es höchste Zeit ist zu handeln. Menschen aber auch.

Kommentar: Sabrina Jaehn

Franz Salewski (Name von der Redaktion geändert) wohnt in einer Altbauwohnung in Berlin, zwei Zimmer, Küche, Bad. Verlassen hat der 57-Jährige sie in diesem Jahr kaum. Schuld daran ist ausnahmsweise mal nicht Corona, stattdessen eine Krankheit, die das motorische Nervensystem befällt und nach und nach dafür sorgt, dass man bewegungsunfähig wird, und zunehmend Atemprobleme bekommt. Unaufhaltsam. Unerbitterlich. Unerklärlich.

Die Forschung weiß bisher kaum, was die sogenannte Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) genau auslöst – und vor allem, wie man sie aufhalten, geschweige denn heilen kann. Franz Salewski selbst vergleicht seine Situation oft mit der Gregor Samsas aus Kafkas Verwandlung, der eines morgens aufwacht und sich im Körper eines Ungeziefers wiederfindet, unfähig sich wie gewohnt zu bewegen und zu verständigen. 

Humorvoll und aktivierend

Ist solch eine Lage furchteinflößend? Natürlich! Ist sie unfair? Absolut! Ist sie ein Grund zum Aufgeben? Nicht für ihn! Darum stehe ich Franz Salewski inzwischen seit über einem Jahr zur Seite: Wir haben ein Assistenzteam aufgebaut, sodass er zuhause rund um die Uhr versorgt wird. Und wir schlagen uns regelmäßig mit Behörden, Krankenkassen und Dienstleistern herum – unfassbar wie viel Zeit und Nerven es kosten kann, lebensnotwendige Hilfsmittel zu bekommen.

Doch eines konnte ihm die Krankheit nicht nehmen: seinen Humor. Damit schiebt er so manchen negativen Gedanken beiseite. Und mehr noch: Er inspiriert mich, stachelt mich an – ein Grund, warum ich hier überhaupt davon berichte. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, appelliert er an jede und jeden, endlich aktiv zu werden. Immer wieder hieß es in den letzten Monaten: Wir müssen Corona als Chance begreifen, die Pandemie zum Umdenken nutzen. Doch all das nützt nichts, wenn es zur Floskel verkommt und die großen Tiraden wirkungslos verpuffen. 

Dabei machte die ARD-Themenwoche „#WIELEBEN – alles bleibt anders“ im November dieses Jahres noch einmal deutlich, wie dringlich unter anderem eine striktere Klimapolitik ist. Gleichzeitig zeigt eine Umfrage zur Themenwoche, dass es einiges gibt, mit dem ein Großteil der Befragten in Deutschland nicht einverstanden ist.

Beispiel Umweltschutz: Über die Hälfte der Deutschen ist mit dem Status quo „weniger zufrieden“, ein weiteres Viertel ist sogar eindeutig „unzufrieden“. Ähnlich sieht es mit dem Umgang miteinander in der Gesellschaft aus. Hier gibt etwa die Hälfte an, „weniger zufrieden“ zu sein; 15 Prozent sind der Umfrage zufolge „unzufrieden“. 

Aktiv gegen die Ohnmacht

Doch wie lässt sich daran etwas ändern? Besonders jetzt in der Krise? Die Antwort: Tun Sie etwas! Ist die Corona-Pandemie furchteinflößend? Natürlich! Ist es unfair, dass viele Menschen ihren Job verlieren und immer mehr sogar ihr Leben? Absolut! Ist es ein Grund zum Aufgeben? Nein, nicht für Sie! Statt uns von der Ohnmacht beherrschen zu lassen, die die Pandemie mit sich bringt, sollte sie uns wachrütteln.

Ganz nach Uwe Jannsens, der neulich in der Talkshow Anne Will sagte: „Es ist fünf nach zwölf.“ Was der Intensivmediziner über die Bekämpfung der Corona-Krise zum Ausdruck brachte, kann analog für den Klimaschutz gelten und womöglich auch für unser gesellschaftliches Zusammenleben – spätestens dann, wenn sich nicht mehr an den Schwächsten orientiert wird und diese einfach hinten runterfallen. 

Anlaufstellen zur persönlichen Assistenz:

Wer hier gegensteuern will, dem bietet die aktuelle Lage gerade den Anstoß oder die Möglichkeit, etwas zu tun – sei es durch das Einhalten von Corona-Schutzmaßnahmen oder sogar durch die aktive Unterstützung von Risikogruppen. Das kann der Einkauf für die Nachbarin sein, aber eben auch beruflich die persönliche Assistenz für einen Menschen mit Behinderung.

Vorkenntnisse sind hier in der Regel nicht zwingend erforderlich; die Aufgaben orientieren sich ganz individuell an der zu unterstützenden Person. Das kann beispielsweise Hilfe im Haushalt sein, aber auch Unterstützung beim Transfer zwischen Rollstuhl und Bett oder bei der Körperpflege. 

Für ein selbstbestimmtes Leben

Natürlich ist das nur eine von vielen Optionen, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Aber wer Empathie und Geduld mitbringt, kann einem Menschen wie Franz Salewski auf diese Weise ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen – und gleichzeitig die Krisenzeit beruflich überbrücken, vielleicht ja sogar mit langfristigen Perspektiven als zweites Standbein oder auf übergeordneter Ebene, zum Beispiel in der Beratung privater Arbeitgeber mit Behinderung.

Sicherlich ist persönliche Assistenz kein Job für den großen Geldbeutel, aber immerhin mehr als bloßes Ehrenamt. Und er kann helfen, Zeiten, die uns wahrscheinlich allen irgendwie kafkaesk erscheinen, gemeinsam zu überstehen und einander wieder näherzukommen. Und aus eigener Erfahrung kann ich eines mit Bestimmtheit sagen: Einblicke in ein Leben wie das von Franz Salewski relativieren vieles und bringen einen tatsächlich zum Umdenken.

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