Wie viele Tabletten sind es pro Woche, pro Monat? Am besten sollte man Tagebuch darüber führen - und im Zweifel nach Hilfe suchen. Foto: © bignai / Fotolila.de

"Der freie Wille geht verloren"

Künstliche Begeisterung statt Müdigkeit: Rund drei Millionen Beschäftigte in Deutschland nutzen verschreibungspflichtige Medikamente, um leistungsfähiger zu sein. Das hat Folgen.

Sascha Milin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Dort beschäftigt er sich mit Abhängigkeitserkrankungen. Mit dem Forscher sprach Janna Degener. 

WILA Arbeitsmarkt: Welche Arten von Drogen werden von Berufstätigen, aber auch Studierenden besonders häufig konsumiert?

Sascha-MiliinSascha Milin: Beim Thema Sucht denkt man an Heroinabhängige, die morgens mit Schweißausbrüchen aufwachen. Student/innen und junge Akademiker/innen dagegen legen andere Verhaltensweisen an den Tag. Sie beschaffen sich über Internetapotheken zum Beispiel Stimulanzien, um sich vor Prüfungen das Wissen reinzuschaufeln. Von dem Einsatz dieser Substanzen versprechen sie sich eine Leistungssteigerung.

Tatsächlich können mit einigen dieser Mittel kurzfristig klar definierte Aufgaben schneller erledigt werden, indem zum Beispiel Müdigkeit unterdrückt, Schmerz ausgeschaltet oder eine künstliche Begeisterung für ansonsten langweilige Tätigkeiten erzeugt wird.

Auf erlerntes Prüfungswissen, das mithilfe der Substanzen erworben wurde, kann man aber nur kurzzeitig zugreifen. Die Betroffenen gehen stupide ihren Tätigkeiten nach, können aber nicht mehr entscheiden, in welche Richtung sie sich entwickeln wollen. Der freie Wille und das Urteilsvermögen gehen durch die Aufputschmittel verloren, komplexe Denkvorgänge und insbesondere das Selbstreflexionsvermögen werden außer Kraft gesetzt.

Intellektuelle Leistungen lassen sich durch die Substanzen also nicht sinnvoll und nachhaltig steigern. Man führt dann eher ein Leben im Hamsterrad, ein Teufelskreis, der über kurz oder lang zum Burnout führt. Manche schaffen das zehn Jahre und stehen dann vor einer Karriere, die sie so gar nicht wollten.

Gelten Koffeintabletten und Kaffee auch als gefährliche Aufputschmittel?

Wer sich über eine längere Zeit mit Koffeintabletten oder exzessiven Konsum von Kaffee und Energy-Drinks wachhält, kann ebenfalls abhängig werden. In manchen Fällen können sich hierdurch auch Angststörungen entwickeln und verfestigen. Natürliche Produkte wie Kaffee wirken jedoch nicht so schnell und so aggressiv wie chemische Aufputschmittel.

Welche Suchtmittel und Verhaltensweisen spielen außerdem eine Rolle?

Häufig konsumiert werden auch Substanzen, die eher im Bereich der Nahrungsergänzungsmittel anzusiedeln sind. Es gibt zum Beispiel pflanzliche Mittel, die die Hirndurchblutung verbessern sollen und auch im Demenzbereich eingesetzt werden, und es gibt diverse Vitaminpräparate. Teilweise ist unklar, ob diese Substanzen eine Wirkung haben oder eher einen Placebo-Effekt hervorrufen.

Sie sind meist nicht allzu schädlich - am ehesten noch für den Geldbeutel. Doch sie sind ein Zeichen für den Trend, immer mehr leisten zu wollen, um Konkurrent/innen zu überholen. Anders als beim Doping im Sport scheint beim Einsatz von Drogen am Arbeitsplatz ein Unrechtsbewusstsein völlig zu fehlen. Jüngere Leute sagen zu mir: „Mit meinem Körper kann ich tun, was ich will.“

Sie haben nicht das Gefühl, etwas Unfaires zu tun. Und sie beklagen gleichzeitig eine Leistungsgesellschaft, deren Zwängen sie sich ausgesetzt fühlen. Leider fördern sie selbst gesellschaftliche Fehlentwicklungen mit diesem Verhalten. Denn sie vermitteln ihren Chefs und Chefinnen den Eindruck, dass alles in kürzester Zeit geschafft werden kann, anstatt sich gegenüber Ausbeutungssituationen abzugrenzen oder mehr Zeit und Unterstützung einzufordern. Ich denke, man sollte den Menschen helfen, eine bessere Work-Life-Balance zu finden, anstatt sich immer neuen Phantasien von der Überwindbarkeit der eigenen Grenzen durch Medikamente hinzugeben.

Sollte man sich Hilfe suchen?

Gerade beim Gebrauch von Substanzen zur vermeintlichen Leistungssteigerung gestehen sich die Betroffenen ihre Sucht äußerst spät oder gar nicht ein, weil sich die Abhängigkeit von anderen Süchten unterscheidet. Die Fähigkeit, mehrere Wochen auf den Konsum verzichten zu können, heißt noch lange nicht, dass man nicht süchtig ist. Aufgeklärte Konsumenten sollten ein Tagebuch führen und jeweils für drei Monate im Voraus festlegen, an wie vielen Tagen sie konsumieren wollen. Wenn man sein selbstgestecktes Ziel nicht einhalten kann, sollte man nicht nach Ausreden sondern nach Hilfe suchen.

Es gibt heute viele Angebote, die nicht mehr auf den klassischen Drogenkonsumenten zugeschnitten sind, sondern sich an sozial integrierte Menschen richten. Das sind beispielsweise Chat-Beratungen oder Online-Selbsthilfe. Angebote und Unterstützung findet man unter anderem über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).

Vielen Dank!

Wila-Drogen-ArbeitsplatzDer Artikel ist im WILA Infodienst für Berufe in Bildung, Kultur und Sozialwesen erschienen. Jede Woche werden dort über 400 Stellen speziell für Geistes- und Sozialwissenschaftler/innen zusammengestellt und nach Tätigkeitsgebieten sortiert. So erhalten die Abonnent/innen einen Überblick, bleiben bei der Jobsuche am Ball kommen auf neue Jobideen. 

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